piwik no script img

Besuch an der Drina

An der jugoslawisch-bosnischen Grenze ist der Krieg allgegenwärtig – unterschwellig  ■ Aus Mali Zvornik Rüdiger Rossig

Die weißen Transporter des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen, UNHCR, sind das einzige Anzeichen des Krieges auf dem Weg von Belgrad nach Mali Zvornik. Niemand käme beim Anblick der fast unbefahrenen, zweispurigen Straße wohl auf die Idee, daß hier bis vor etwas über einem Jahr einer der meist befahrenen Transitwege des alten Jugoslawien war. „Sarajevo 78 Kilometer“ steht auf dem Schild am Straßenrand. Bis zum Kriegsbeginn rollten täglich einige tausend Tonnen Güter über die Drina, deren grünes Wasser in Mali Zvornik die Grenzen zwischen den Republiken Serbien und Bosnien-Herzegowina markiert. Die wenigsten der damaligen GrenzgängerInnen in den größeren Nachbarort Zvornik auf der bosnischen Seite waren sich bis zur Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas 1991 über die Existenz oder Nicht-Existenz dieser Grenze überhaupt bewußt. Bosnien und Serbien waren zwei Teilstaaten innerhalb der „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“. Verwaltungsgebiete, deren Grenzen überquert wurden, ohne daß irgendwer dem Gebietswechsel großartig Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Ende Mai 1993 markieren Panzersperren den Verlauf der Staatsgrenze zwischen der unabhängigen „Republik Bosnien-Herzegowina“ und der international nicht anerkannten „Bundesrepublik Jugoslawien“. Grenzsoldaten in blauen Uniformen kontrollieren akribisch die Fracht eines jeden Fahrzeuges, das die Brücke im Ortskern von Mali Zvornik in Richtung Bosnien überqueren will. Rechts und links der Fahrbahn sitzen Soldaten der „Jugoslawischen Bundesarmee“ in Maschinengewehr-Nestern.

Keine zehn Meter weiter, auf der anderen Seite der zweispurigen Brücke, hängt die Fahne der „Serbischen Republik Bosnien- Herzegowina“ schlapp an dem Mast, an dem nach allen internationalen Vereinbarungen das bosnische Linienbanner hängen müßte. Die in freier Wahl bestimmte Regierung in Sarajevo aber hat in Zvornik, der Nachbarstadt auf der anderen Seite der Drina, schon seit über einem Jahr nichts mehr zu sagen. Auf der anderen Seite der Brücke herrscht Radovan Karadžić, der selbsternannte „Präsident“ der bosnischen SerbInnen.

„Nur wer gültige Papiere hat, wird durchgelassen, sonst niemand.“ Der jugoslawische Grenzposten, an dessen Mütze die blau- weiß-rote Kokarde Serbiens den roten Stern des sozialistischen Jugoslawien ersetzt hat, wirkt resolut. Seit gut vier Wochen blockiert das offizielle Belgrad den bis dahin reichlich fließenden Nachschub für die bosnischen SerbInnen. Entgegen jugoslawischen Wünschen hatten diese per Referendum vor zwei Wochen zum dritten Mal die Unterschrift unter den Vance-Owen- Friedensplan, der die Aufteilung Bosniens in zehn autonome Kantone nach ethnischer Zusammensetzung vorsieht, verweigert. Nach Bosnien dürfen seitdem nach Darstellung offizieller serbischer und jugoslawischer Stellen nur noch medizinische und humanitäre Güter geliefert werden. Schade, daß der junge Mann in Blau sich trotz dieser neuen Politik nicht von JournalistInnen bei der Abfertigung eines der an der Brücke wartenden Lkws zuschauen lassen will. Wir müssen den Grenzposten verlassen und fahren die Straße an der Drina entlang, in der Hoffnung, einen weiteren Übergang zu finden. „Srebrenica 28 Kilometer“ steht auf dem Schild am Ortsende von Mali Zvornik.

Durch das Restaurant am Wasserwerk dröhnt die Stimme eines dicken Herrn mit Glatze. Nicht etwa die Sanktionen, auch nicht die internationale Isolierung Rest- Jugoslawiens hätten den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević zum Kniefall gebracht, sondern die amerikanische Drohung mit einem militärischen Eingreifen in den bosnischen Krieg. „Als ob wir drüben in Bosnien nicht jeden Tag beweisen würden, daß niemand die Serben besiegen kann“, murrt der Dicke weiter. „Noch so ein Exkommunist, der ganz plötzlich national wurde“, flüstert der Kellner uns zu. „Vor drei Jahren hat der noch ganz andere Sachen erzählt.“

Lazar ist 34 Jahre alt. Den Job in der Kantine des Wasserkraftwerkes hat der Serbe angenommen, um seine Frau und die drei Söhne einigermaßen durch den Krieg zu bringen. „Es gibt viel zu viele dieser neuen Tschetniks hier, die mit der Sache des Serbentums an sich nichts zu tun haben. Als wir 1989 in Mali Zvornik die erste echte Tschetnik-Bewegung der Republik Serbien gegründet haben, hat der da uns noch gedroht“, berichtet der rotblonde Kellner und zeigt abweisend auf den Zeterer auf der anderen Seite der Kantine.

Damals, vor Kriegsbeginn, war Mali Zvornik ein relativ reicher Ort. Lazar war Kellner in einem der schicken Hotels in den Bergen um den Zvorniker See. „Wir haben nicht schlecht verdient, nur hat die Inflation das Geld schneller gefressen, als wir es ausgeben konnten.“ Für die wirtschaftliche Misere machten Lazars Tschetniks zunächst in erster Linie die nach wie vor kommunistische Regierung in Belgrad verantwortlich. Bis sich 1987 der Volkstribun Milošević an die Spitze der Republik Serbien putschte.

Für seinen kometenhaften Aufstieg an die Schalthebel der Macht benutzte der ehemalige Direktor der „Beogradska Banka“ die Massen. Der Parteifunktionär köderte die verunsicherten Menschen, indem er als erster jugoslawischer Politiker seit Ende des Zweiten Weltkrieges die Unterdrückung des serbischen Volkes im kommunistischen, atheistischen Jugoslawien thematisierte. Die SerbInnen glaubten dem nationalen Kommunisten Milošević: Trotz einer Inflation von 2.500 Prozent im Sommer 1989, trotz der Arbeitslosigkeit und der fast unbezahlbaren Preise war Lazar von dem Mann angetan, der es wagte, als Parteifunktionär über die nationale Frage zu sprechen.

„Etwa 1987 haben die Muslimanen begonnen, uns Serben in Mali Zvornik zu bedrohen“, berichtet der Kellner. Mit Geldern aus Libyen, „von Gaddafi“, sollte auf der anderen Seite der Drina, im bosnischen Zvornik, ein islamisches Gotteshaus entstehen, dessen fünf Minarette die Türme aller Kirchen des Ortes überragt hätten. Von den Kommunisten bis zu den Tschetniks schlossen sich alle serbischen Parteien gegen den Bau zusammen. „Die Muslime sind immer eine Minderheit gewesen, dort in Bosnien, und in Serbien sowieso“, erzürnt sich Lazar noch heute. Natürlich hat er nichts gegen Minderheiten, „aber sie müssen sich benehmen“. Und weil die Muslime von Zvornik das nicht wollten, gar darangingen, ihre Moschee-Pläne auszuführen, organisierten Lazars Tschetniks 1990 die erste Demonstration gegen die „islamischen Extremisten“ im bosnischen Nachbarort.

Die Lage der serbischen Nation war in den späten achtziger Jahren zum alles beherrschenden Thema in den Republiken Serbien und Montenegro geworden. Angefangen vom Nachrichtenmagazin Dugo über die Boulevardzeitung Politika Ekspres bis hin zum Fernsehen thematisierten seit 1987 fast alle Medien ständig das Leid der SerbInnen in den letzten sechshundert Jahren. Ihren Höhepunkt fand die Kampagne, als sich im Frühjahr 1989 über eine Million SerbInnen auf dem Amselfeld im mehrheitlich albanisch bewohnten Kosovo zu einer Kundgebung versammelten. Inmitten der folkloristisch gestimmten Massen stand der Atheist Milošević auf den Stufen des Altars, als der orthodoxe Patriarch Pavel die Messe für die Gefallenen der Schlacht von „Kosovo Polje“ zelebrierte. Auf dem Amselfeld war sechshundert Jahre zuvor das Ritterheer des serbischen Königreiches von den osmanischen Türken besiegt worden.

Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wurden diese Ritter zum nationalen Symbol für die Lösung der ökonomischen und politischen Probleme der serbischen BürgerInnen Jugoslawiens. Und an der Spitze der nationalen Kampagne stand mit „Slobo“ ein Funktionär der Kommunistischen Partei, die für die meisten der aktuellen Schwierigkeiten verantwortlich war. Kellner Lazar meldete sich, vom nationalen Gedanken berauscht, 1991 freiwillig und zog in den Krieg.

Ein Jahr später kam er wieder nach Mali Zvornik zurück. „Unsere Politiker haben den Krieg völlig falsch geführt“, wispert er, nicht ohne einen vorsichtigen Blick auf die Nachbartische zu werfen. „Wir haben die Drecksarbeit der Kroaten gemacht und die Muslime vertrieben, statt die Zagreber Ustascha-Faschisten zu besiegen.“ Lazar hat das Leid in Bosnien nicht ertragen können. „Jede Nacht träume ich von den Vergewaltigungen, den brennenden Häusern, den schreienden Menschen. Ich bin Serbe, ich bin orthodoxer Christ, aber das ist doch nicht christlich, was da passiert.“

Lazars Blick bleibt an dem dicken Schreier auf der anderen Seite des Raumes hängen. „Der hat es richtig gemacht, während wir gekämpft haben, hat er die Seiten gewechselt, um oben zu bleiben.“ Der Exkommunist leitet nun die „Serbische Radikale Partei“ in Mali Zvornik. Nebenbei hat er das Busunternehmen gekauft, in dem er vor dem Krieg als Fahrer gearbeitet hatte.

Für Lazar ging der Krieg nicht profitabel aus. Den relativ gut bezahlten Job im Kurhotel oben im Tal am Zvoniker Stausee gibt es nicht mehr. Sogar das Gästehaus auf der anderen Seite, zwischen der Drina und bosnischen Bergen, mußte schließen, als die allsommerlichen TouristInnen aus Belgrad und Novi Sad wegen des Krieges ausblieben. Ein Abgeordneter des selbsternannten „Parlamentes“ der bosnischen SerbInnen hat die Villa angeblich gekauft. In den anderen Hotels leben Flüchtlinge aus Bosnien, gelegentlich übernachtet auch einmal UNHCR-Personal dort.

Für Lazar war die Stelle als Kellner in der Kantine des Wasserkraftwerkes die einzige Chance, überhaupt wieder Fuß zu fassen. Seine Tschetnik-Bewegung gibt es nicht mehr. Ist der Tschetnik zum Pazifisten gewordern? „Wenn es gegen Kroaten oder Albaner ginge, wäre ich wieder dabei“, verneint der Kellner rigoros. „Das sind unsere wahren Feinde, mit den Muslimen hier in Mali Zvornik können wir leben, wenn sie sich anständig verhalten.“ Zum Abschied lädt er uns in die orthodoxe Kirche von Mali Zvornik ein.

Ein 18jähriger mit verspiegelter Sonnenbrille verhindert unseren Kirchgang. Die Zigarette cool im Mundwinkel, steht er neben unserem Auto, als wir aus der Kantine des Waserkraftwerkes kommen. Ein Schmierzettel voller kyrillischer Buchstaben weist den Teenager als Polizeiagenten aus: „Die Straße hinter Mali Zvornik ist militärisches Sperrgebiet, wie kommt ihr hierher?“ Als auch der Hinweis auf das Fehlen entsprechender Schilder nichts fruchtet, müssen wir ihm auf die Wache folgen. Erst auf dem Weg erklärt uns der milchbärtige Polizeiagent, daß wir bei unserem Gespräch mit Lazar ein militärisch wichtiges Objekt „observiert“ haben: Das Wasserkraftwerk sei schon öfter von „muslimischen Terroristen“ bedroht worden.

Dann beginnt das Warten. Obwohl wir uns ausweisen können und offensichtlich weder Waffen noch Kameras mitführen, werden unsere Personalien ausführlichst aufgenommen. Auffällig desinteressiert erfragen nacheinander drei Polizisten Gründe, Hintergründe und Ziele unseres Aufenthaltes an der Grenze. Ganz wie im alten, sozialistischen Jugoslawien muß auch der „neue“ serbisch-jugoslawische Staat ab und zu BürgerInnen wie BesucherInnen zeigen, daß seine Organe ihre Macht auch gebrauchen können. Es war wohl unter anderem auch dieser kleine, alltägliche Terror, der das aggressive Potential schuf, das sich seit über zwei Jahren in Kroatien und Bosnien-Herzegowina entlädt.

Die Prozedur an sich ist sinnlos, der erste Blick in unser Gepäck hat den routinierten Augen der Polizisten gezeigt, daß wir harmlos sind. Trotzdem lassen die Beamten meinen Belgrader Kollegen Petar Janjatović und mich einmal mehr an der Prozedur teilhaben, die bis vor kurzem „Kontrolle durch Organe der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens“ hieß.

Die Sonne geht gerade unter, als unser Polski Fiat Mali Zvornik hinter sich läßt. Eine muslimische Bäuerin sät in ihrem Garten, die Mali-Zvorniker sitzen in T-Shirt und Jeans in den Cafés an der Drina. Die Straßenschilder, die wie eh und je den Weg nach Srebrenica, Tuzla, Sarajevo und Zagreb weisen, verstärken noch den Anschein von Normalität. Ohne zu wissen, daß nur noch die Lastwagen des UNHCR und anderer humanitärer Organisationen den Weg nach Bosnien-Herzegowina einschlagen dürfen, käme niemand auf die Idee, daß keine hundert Meter von der Straße entfernt das ethnisch gesäuberte Bosnien- Herzegowina beginnt. Kein Kanonendonner, keine MG-Salve, kein Feuer, kein Kampfflugeug weist darauf hin, daß auf der anderen Seite der Drina gekämpft wird oder wurde. Auf der Gegenfahrbahn rollen Transporter des UNHCR in Richtung Mali Zvornik.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen