: Das verletzte Ohr Von Jan Ole Jöhnk
Die „Television Personalities“ sind eine erfolglose, aber kultisch verehrte Londoner Band, die 1977 von dem Gitarristen Dan Treacy gegründet wurde. Die Musik, die sie machen, bezeichnen ihre Anhänger wohlwollend als „Neo-Sixties“ oder einfach nur als „Trash“. Anläßlich der diesjährigen Tournee der TVPs stellt sich wieder einmal die Frage: Warum hören sich denkende Menschen die Musik von Bands an, die gar nicht richtig spielen können?
Eine Antwort könnte in dem Bestreben vieler Individuen liegen, sich alles zunehmend „schöner“ zu gestalten. Dieses „Verlangen“ wird heute auf die Spitze getrieben. Design durchzieht selbst die muffeligste Studentenbude. In jeder Küche steht wenigstens ein Alessi-Wasserkessel, und kein Büro kommt mehr ohne kunstvoll entworfenes Sitzmöbel aus. Selbst altbekannten, bisher völlig „stylingfreien“ Produkten wie dem Bier wird seit einiger Zeit ein neues, klinisch reines Image verpaßt. Nicht mehr lallende, bäuchige Deppen stehen für den gelben Gerstensaft, nein, sonnengebräunte, schlanke Yuppies schwärmen von der herben Frische.
In der Musik hat dieser Trend Tradition. Immer schon regierte der saubere nette Popsong den Äther und die Plattenspieler. Die allerorten entstehenden privaten Radiostationen sowie ihre öffentlich-dümmlichen Kopisten berieseln uns immer schamloser mit „hübschem“, keine Hörgewohnheiten verletzendem Gedudel. Der unangenehme Michael Jackson und die notorischen Genesis verkörpern heute den musikalisch-industriellen Komplex, der Musik nur als „Produkt“ für bestens erforschte Marktsegmente „herstellt“. Corporate Rock sucks!
Was tut also der Musikliebhaber, der dieser „netten Welt“ entfliehen möchte? Er flüchtet sich in die Klänge der erwähnten „Television Personalities“ und ähnlicher Gruppen. Sicher klingen sie, als würde sich der Gitarrist weigern, einen dritten Akkord zu lernen, doch richtig spielen kann ja jeder, das macht keinen Spaß. Da setzt sich einer hin und übt, bis er wunde Finger hat. Was schließlich herauskommt, ist schlichtweg gähnend langweilig — weil alles stimmt. Richtig interessant wird es erst, wenn Ecken und Kanten da sind. Dann wird es menschlich. Dann können Gefühle ausgedrückt werden. Die seelenlosen Industrie-Zombies können das nicht.
Adorno nannte es die Suche nach der „Wahrhaftigkeit“, als er gefragt wurde, warum jemand die Zwölftonmusik von Arnold Schönberg mögen könne. Zuviel sogenannte „Schönheit“ überfordert uns, weil sie uns künstlich und im Wortsinn „weltfremd“ erscheint. Dazu kommt dann sicherlich auch noch die Hoffnung oder die Illusion der Fans, selbst etwas derartig Dilettantisches hinzubekommen. Die Bemerkung vieler, die solche Musik ablehnen („das krieg' ich auch noch hin“), scheint ihnen recht zu geben.
In jedem Fall fühlt Mensch sich diesen Musikern näher, nicht zuletzt weil sie in kleinen Clubs und nicht in gigantischen Fußballstadien auftreten. Schräge Musik als letztes Reservat in einer Welt, die zunehmend künstlicher wird. Nur „Trash“ steht noch gegen Entfremdung, da er dem richtigen Leben entspricht.
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