: Die Zukunft des Scheunenviertels ist ungewiß
■ Planer fordern neue Formen der Bürgerbeteiligung zur Rettung des Mythos
Auf dem Weg vom Rosa-Luxemburg-Platz zum Kulturhaus Mitte in der Rosenthaler Straße wechselt die Stadt ihre Ansichten meterweise: Ruinen folgen Alt- und Plattenbauten, professionell eingerüstete Gebäude stehen neben sanierten Bauten, denen der experimentelle Charme der Hausbesetzer anzusehen ist. In der „Mulakei“, einst die Idylle des Scheunenviertels, säumen erste Kräne die Brachflächen. Man bemerkt, daß die Spandauer Vorstadt mit ihrer baulichen Mischung wieder ein wenig mehr „atmet“.
Von der sozialen und architektonischen Vernichtung durch die deutschen Faschisten in den dreißiger Jahren hat sich das einstige jüdische Viertel Berlins bis dato nicht erholt. Die Gebäude, die den Zweiten Weltkrieg überstanden, wurden in den Nachkriegsjahren vernachlässigt. Erst in den achtziger Jahren wurden einige Straßen restauriert. Als Renommiermeile behutsamer Stadterneuerung entstand beispielsweise das puppige Sophienviertel. Doch der größte Teil der Bausubstanz blieb in denkbar schlechtem Zustand.
„Die Zukunft des Quartiers“, sagte der Architekt Dieter Weigert am Donnerstag abend auf der Gesprächsrunde zum Thema „Chance dem Scheuenviertel“, „liegt in der Rettung eines besonderen sozialen und baulichen Milieus, dessen zukünftige Konturen aber nicht absehbar sind.“ Im Scheunenviertel seien eine Vielzahl von Wohnbauten auf Eckgrundstücken und in Lücken geplant. Zusätzlich könnten drei große Dienstleistungskomplexe am Hackeschen Markt, in der Oranienburger Straße und an der Wilhelm-Pieck-Straße in unmaßstäblichen Dimensionen entstehen. Zwar soll das Scheuenviertel vom Senat 1993 endlich als „Sanierungsgebiet“ förmlich festgelegt und damit der Abrißstopp, die Finanzierung in Teilen und die Modernisierung der Altbausubstanz gesichert werden. Die vielen baulichen Veränderungen ließen bei den Anwohnern jedoch die Sorge nach einer totalen Umstrukturierung des Viertels aufkommen. Zugleich, so Weigert, stellten die Probleme der Rückübertragung oder der „besorgniserregende Maßstab des Wettbewerbs Alexanderplatz große Fragezeichen“ dar.
Um sowohl die „unausweichliche Transformation“ als auch den Erhalt der „extremen Mischung“ im Bezirk zu steuern, sind neue Instrumente der Bürgerbeteiligung gefragt. So forderte der Planer Dietmar Kuntzsch die bisherige Praxis der Beirats- und Betroffenenmodelle zu verbessern, überforderten doch diese sowohl die Behörden als auch die Bürger selbst. Die Sanierungsgebiete, rief Kuntzsch in Erinnerung, würden in zu große Bereiche aufgeteilt. „Die Flächen sind zu komplex. Anwohner, Gewerbetreibende, Investoren und Verwaltung kommen so wenig ins Gespräch.“ Vielmehr müßten andere Konstellationen geschaffen werden, etwa die Überlegung, die Gebiete in Quartiere, Blöcke oder Häuser aufzuteilen. Außerdem, so regte der „Betroffenensprecher“ Frank Bertemann an, müßte die Bürgerbeteiligung auf „rechtlich verbindliche“ und finanziell abgesicherte Grundlagen gestellt werden. Auf der Basis des Goodwill seien Beteiligungsverfahren „ein Witz“. Milieuschutz, Einspruchsrechte und die Ansprüche auf Finanzierung, wie sie in Holland praktiziert würden, hätten sich als wirksame Instrumente gegen die Verdrängung erwiesen, sagte Bertemann.
Draußen, auf dem Heimweg, regiert schon wieder der einstige Mythos des Viertels: Die Synagoge als Kulisse der Huren, Alfred Messels Kaufhaus, die Volksbühne und Poelzigs Kino Babylon als bauliche Handschriften in einem noch existierenden Stadtgrundriß. Er wird zu bewahren sein. Rolf Lautenschläger
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