■ Europa hat sich verspekuliert: Maastricht liegt im Koma
Wirtschaftshellseher haben wieder einmal Konjunktur. Hält Maastricht oder bricht Maastricht, wer mehr als drei europäische Münzen unterscheiden kann, wird aufgerufen, letztgültige Wahrheiten über den Advent der Währungsunion abzusondern. Also, zum x-ten und bestimmt nicht zum letzten Mal: die Diskussion um Maastricht wird uns noch viele Jahre begleiten. Und genau darin liegt das Problem.
Maastricht war der Versuch, ein Europa festzuschreiben, das es schon zum Zeitpunkt der Vertragsformulierung nicht mehr gab. Europa ist nicht mehr nur Westeuropa. Die Frage, welche Länder noch in den Kreis der Auserwählten aufgenommen werden sollen, hat eine völlig neue Bedeutung bekommen. Es geht nicht mehr nur um Schweden oder Österreich, die relativ leicht zu integrieren wären. Es geht um Polen bis Bulgarien, und schließlich auch um Länder wie Moldawien und die Ukraine, mit denen zumindest eine Geschäftsgrundlage gefunden werden muß. Die Europäische Gemeinschaft wird sich damit befassen müssen, und je später sie das tut, desto härter wird sie darauf gestoßen werden. Fast vier Jahre nach dem Fall der Mauer hat Brüssel noch keine auch nur halbwegs konkreten Vorstellungen entwickelt, wie das ganze Europa aussehen soll.
Maastricht ist der Versuch, das westliche Europa abzuschotten und die Augen zuzumachen. Manchmal gerät dieser Versuch an den Rand der Lächerlichkeit, etwa wenn die iberischen Länder lautstark Solidarität fordern und verlangen, daß die reichen Länder der Gemeinschaft mehr Geld für die Unterstützung der ärmeren Regionen herausrücken sollen. Aber wenn es um die wirklich gebeutelten Länder in Europa geht, dann sind die Spanier und die Portugiesen die vehementesten Verfechter einer engstirnigen Sparpolitik.
Die Europäische Gemeinschaft scheitert am Tellerrand. Ihr Problem ist, daß der Maastrichter Vertrag überholt ist, aber daß Maastricht der einzige Zukunftsentwurf ist, den die EG besitzt. Er gibt nicht nur den Takt für die nationalen Wirtschaftspolitiken vor, er regelt auch die nächsten Schritte des politischen Zusammenwachsens. Einen neuen Fahrplan auszuarbeiten würde Jahre dauern. Maastricht aufzugeben wäre ein Kraftakt, zu dem die europäischen Regierungen in ihrer augenblicklichen Verfassung nicht in der Lage sind.
Bevor sich die Europäische Gemeinschaft den neuen Herausforderungen stellen kann, muß also Maastricht irgendwie über die Bühne gebracht werden. Die Währungsunion ist das Kernstück des Vertrages. Die Hoffnung, die Macht der Deutschen Mark zu brechen, war der Grund, daß sich beispielsweise die französische Regierung auf einen Souveränitätsverzicht eingelassen hat. Ohne die Währungsunion gibt es wenig Bereitschaft für die politische Union. Spätestens seit diesem Wochenende aber ist klar, daß der Zeitplan für die Einführung der gemeinsamen Währung nicht einzuhalten ist. Die Diskussion um das EWS wird uns noch lange beschäftigen. Maastricht ist nicht tot, Maastricht liegt im Koma, und das ist das Schlimmste, was Europa passieren konnte. Alois Berger
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