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"Muta" oder "Mutter" - egal

■ Lesen lernen heute: nicht mehr Buchstabe für Buchstabe, sondern "erlebnisorientiert"

„Muta“ oder „Mutter“ — egal

Lesen lernen heute: nicht mehr Buchstabe für Buchstabe, sondern „erlebnisorientiert“

Heutzutage müssen SchulanfängerInnen nicht mehr ihre schweißnassen Finger um verschmierte Füllfederhalter krampfen. Nein, heute hauen schon Sechsjährige ihre Aufsätze in die Schreibmaschine oder drucken sie gleich. Heute müssen die Kinder auch nicht erst schreiben können, bevor sie schreiben dürfen: Kritzelbriefe an die Lehrerin sind erlaubt und erwünscht.

Der Alltag von ABC-Schützen sah schon mal anders aus: Um die Jahrhundertwende bekamen die Kinder im Frontalunterricht die einzelnen Buchstaben eingebleut - das verlangte eine hohe Abstraktionsfähigkeit, da Buchstaben allein ja noch keinen Sinn ergeben. In den 20er Jahren bekam diese Buchstabiermethode, auch synthetische Methode genannt, Konkurrenz von der Ganzheitsmethode, auch analytische Methode genannt. Jetzt mußten die Kinder gleich ganze Wörter „speichern“ und wiedererkennen. Rund 80 Wörter waren zu lernen, bevor es dann ans Zerlegen der Wörter ging, also ans Buchstaben lernen. Vorteil dieser Methode: Am Anfang steht die Bedeutung, nicht der Buchstabe.

In den 60ern entbrannte darum ein erbitterter Methodenstreit, weiß Lotta Ubben, Grundschulreferentin beim Bidlungsressort. Da die Kinder mit beiden Methoden das Lesen lernten, entchied man sich für einen Kompromiß: Am praktischsten sei doch, Worte zwar als Ganzheiten kennenzulernen, dann jedoch

hier bitte die Zeichnung

Kritzelkorrespondenz

gleich in die Buchstaben aufzulösen. „Integrative Methode“ nennt sich der Kompromiß. Im Unterricht wird zum Beispiel mit der Phantasiepuppe „Fu“ begonnen, einem lieben Wesen aus Socke mit Perücke obendrauf. Fus Bruder heißt „Ufu“, und der „ruft“ so gern nach Fu. Zusammen mit den Namen haben die Kinder also gleich F, U, R und T kennengelernt.

Immer mehr LehrerInnen arbeiten heute ganz ohne Lehrfibeln: Zu unterschiedlich sind mittlerweile die Vorkenntnisse der Kinder, sagt Erika Pagell von der Arbeitsgemeinschaft Grundschule. Außerdem lernen manche besser, wenn sie Buchstabenklötzchen zusamenlegen, andere, wenn sie die Buchstaben mit dem Finger auf einen Rücken malen.

Schönschreiben und Richtigschreiben — auch diese Zwänge sind passe. Stattdessen werden von Anfang an Kritzelbriefe geschrieben, an die Lehrerin oder MitschülerInnen. Denn schreiben wollen sie alle sofort, die Erstklässler, lieber noch als lesen, weiß Erika Pagell. Und diese Mitteilungsverlangen, das hinter dem Schreibwunsch steht, gilt es zu unterstützen. Daß man „Mutter“ also nicht als „Muta“ schreibt, lernen die Kinder erst viel später. Die künstliche Situation Diktat gibt es ohnehin kaum noch, stattdessen korrigieren die Kinder ihre kleinen Aufsätze selbst mithilfe eines Nachschlagwerkes oder geben sie einer Mitschülerin zu lesen.

Auch die Künstlichkeit des von der Fibel vorgegebenen Wortschatzes ist abgeschafft: Viele Klassen haben sich über gemeinsame Erlebnisse einen Grundwortschatz erarbeitet, berichtet Margrit Buck (Fachberatung Grundschule). Gemeinsames Erlebnis kann zum Beispiel ein „Mäusefest“ anläßlich des neuen Buchstabens „M“ sein. Zusätzlich zu diesem Grundwortschatz kann jedes Kind Worte lernen, die seinen individuellen Erfahrungen und Erlebnissen entsprechen.

Christine Holch

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