piwik no script img

Eine Fabrik mit Gedächtnis

Wolfen ist keine Stadt, sondern ein Industriepark – geprägt vom Stammhaus der Agfa-Aktiengesellschaft, zu DDR-Zeiten Orwo-Film  ■ Von Niklaus Hablützel

Der Freiherr von Stein durfte seine Straße behalten. Karl Marx auch, aber Lenin nicht. So ungerecht ist die Geschichte, und so liberal dann wieder doch, daß sie eine Theorie hervorgebracht hat, die den Reformpreußen auch für Kaderkommunisten akzeptabel machte. Die Namensschilder der Freiherren sind verblichen, die Häuser dahinter düster und beschattet. Hier hat das Management gewohnt, herrschaftlich, aber pflichtbewußt wie die Fassaden.

Es wohnt immer noch hier, nur leitet es jetzt nichts mehr, ist nutzlos geworden und Objekt des Zorns: „Die haben sich doch nur die Häuser gesichert“, heißt es. Die Straße mündet in den Puschkinplatz, wo das Theater spielt, das die Herren der Fabrik einst gestiftet hatten. Etwa 60 Jahre ist das her, das Gebäude im Stil der neuen Sachlichkeit beweist, daß Kultur hier nur im Dienst einer größeren Sache anerkannt war. Die Kommunisten, die späteren, verstanden es auch nicht viel anders. Heute residiert das Kulturamt im Seitenflügel. Es ist noch damit beschäftigt, für sich eine Aufgabe zu finden.

Sie läge vor der Tür. Wolfen ist eine Lektion in deutscher Industriegeschichte, gut möglich, daß gerade ein neuer Abschnitt begonnen hat. Der Sozialismus ist hier nur eine vorübergehende Erscheinung geblieben. Er hat die Fundamente des Ortes kaum berührt. Ein paar Plattenbauten erinnern noch an diese Zeit, sonst fast nichts, schon gar nicht die Fabrik, von der nur mißverständlicherweise behauptet werden kann, sie habe diese Stadt geprägt. Denn es gäbe gar kein Wolfen ohne das Stammhaus der Agfa-Aktiengesellschaft. Hier steht das Original, wie schließlich auch gestandene Revolutionäre ehrfurchtsvoll zugaben, als sie die Firmennamen des Klassenfeindes nicht mehr behalten durften. Also wurde aus dem Agfa-Film der Original-Film aus Wolfen, abgekürzt „Orwo“.

Dreimal hintereinander hat in Wolfen die schwarze Pest gewütet. Der „wüste Ort“, wie die Stadtchronik vermerkt, ist schon im frühen Mittelalter erwähnt. Seine Geschichte jedoch beginnt in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Agfa-Farbwerke die erste chemische Fabrik errichteten. Die ältesten Gebäude stehen noch. Arbeitslose mit einem ABM-Vertrag richten hier ein Museum ein, man wird es unbesehen empfehlen dürfen.

Die Werksbibliothek enthält Inkunabeln an Fachliteratur, und heute, seit es wieder erlaubt ist, werden Agfa-Patente in alle Welt verkauft. „Sie müssen sich das so vorstellen: Ein Film aus sagen wir mal 14 Schichten. Und jede dieser Schichten ist wieder ganz anders zusammengesetzt; wenn man da jetzt nur ein winziges Teil...“ Nein, wie ein Betriebsrat spricht Hartmut Rönnike nicht. Er ist Ingenieur, müde, aber auch ein bißchen stolz, daß er den Orwo-Film noch einmal gerettet hat. Fast hätte die Treuhand einzelne Abteilungen dieser so unglaublich komplizierten Anlage verscherbelt. Das internationale Konsortium von Fotohändlern wäre dann nicht eingestiegen in das Geschäft. Nun muß die Treuhand nur noch den Vertrag unterschreiben, Betriebsrat Rönnike weiß nicht, warum das immer noch nicht geschah.

Die neuen Herren wollen ihre eigene, nicht die alte deutsche Marke herstellen. Ein bißchen Massengeschäft in Läden, die bisher No-Name-Produkte anboten, und das nach den neuen EG-Vorschriften nicht mehr tun dürfen, dazu exklusive Spezialitäten wie Röntgenfilme und Fotoplatten.

„Es rechnet sich in dieser Mischung“, findet Rönnike. 750 Leute werden weiter arbeiten können – der Entlassung von 6.000 an einem einzigen Tag hat der Betriebsrat schon zugestimmt. Sein Sächsisch klingt hart, wenn er davon erzählt. Ein Kollege aus dem Westen war damals hiergewesen, um die Neulinge anzulernen. Er ging schweigend nach Hause, und Rönnike hat gelernt, daß Betriebsräte drüben den Notstand ausrufen, wenn mal 20 Leute in eine andere Abteilung umgesetzt werden müssen.

Fast eine halbe Stunde Fußmarsch liegt zwischen dem Tor am Puschkinplatz und dem Betriebsratsbüro im Verwaltungsgebäude der heutigen „Filmfabrik Wolfen GmbH“. Der Weg führt vorbei an rostigen Rohren, geleerten Hallen, Brachflächen und Betonklötzen mit unklarem Zweck. Ein Schild warnt vor dem Betreten des Kraftwerkgeländes. Nötig wäre der Hinweis nicht, die ganze Anlage wirkt gefährlich genug. Die Agfa-Fabrik ist heruntergewirtschaftet, und wer hier noch arbeitet, weiß besser als anderswo in der ehemaligen DDR, wer daran schuld ist. Nicht die Treuhand, die höchstens ein bißchen schlimmer machen konnte, was schon schlimm war. Wolfen ist keine Stadt, Wolfen ist ein Industriepark.

Das Wort steht heute für ein Wirtschafts- und Entwicklungsprogramm, daß die Reste rettet und neue Fabriken anlocken soll. Aber es steht auch für eine historische Wahrheit und ist daher schönfärberisch nur auf den ersten Blick. Die Rosthaufen, die überall herumliegen, lassen sich beiseite schaffen. Was dann übrig bliebe, ist eine geometrische Kunstlandschaft erstaunlicher Schönheit. Vier Eisenbahnschienen verzweigen sich am Verwaltungsgebäude, teilen das rhombenförmige Gebiet in wohlgeordnete Zonen ein, dazwischen verlaufen schnurgerade Wege, an denen Gebäude verschiedener Größe stehen.

Die Ähnlichkeit dieses Grundrisses mit den Bauplänen absolutistischer Herrschaftsarchitektur ist kein Zufall. Hier wie dort zeigt sich darin ein Wille zur hierarchischen Ordnung, und wie um die letzten Zweifel auszuräumen, protzt denn auch das Verwaltungsgebäude in schwerem Marmor. Es scheint der Tempel eines neuen Zeitalters zu sein, der im Halbkreis zwei Innenhöfe für die Hohepriester der Chemie umschließt und das gewöhnliche Volk auf Distanz hält. Verständlich wird sein Grundriß nur aus der Luft: Vom Flugzeug aus gesehen, dem Transportmittel dieser steingewordenen Zukunft, bilden Seitenflügel und Mitteltrakt den Buchstaben W.

Wolfen also, der Rest hatte sich danach zu richten. Zwei- und dreistöckige Reihenhäuser liegen in Gruppen geordnet um das Machtzentrum herum, außerhalb des Werkzaunes, aber doch dem einzigen Zweck untergeordnet, der hier alles beherrscht. Die Arbeiter gehören der Fabrik, die sich wiederum der noch größeren Einheit der IG-Farben anschloß.

Solide Bauweise mit Sinn für sozialen Fortschritt

Die Herrschaft der Nationalsozialisten war vorbereitet. Sie kam bald und meinte es gut mit Wolfen. Neue Siedlungen entstanden, schmucke Backsteinhäuschen schon an der Hauptstraße. Soziale Reformarchitekten und Ideologen des Volkstums hatten einen eigenen Kompromiß gefunden und weniger den Proleten als vielmehr dessen Frau zum Objekt der Planung gemacht. Sie bekam einen kleinen Garten hinter das sittsame Eigenheim, ihn hatte sie zu bestellen und stand am Herd. Auch den mittelalterlichen Ortskern räumte das Regime auf und machte Platz für Kundgebungen. Nicht mehr für streikende Arbeiter, sondern für Huldigungen der Volksgenossen an das große Werk. Als alles fertig war, bestand ein Drittel der Bevölkerung von Wolfen aus Zwangsarbeitern.

Aber solide ist gebaut worden, durchaus mit Sinn für sozialen Fortschritt. Noch heute leidet Wolfen deshalb weniger als andere Gemeinden der ehemaligen DDR unter dem Verfall der Bausubstanz. Leichter als anderswo fällt hier vielleicht auch das Aufräumen. „Wenn ich sehe, daß etwas geschieht, dann ist es nicht mehr so schlimm“, sagt Rolf Krause. Er traut sich viel zu, Bürgermeister von Wolfen will er werden, ist bislang aber nur stellvertretender Betriebsratsvorsitzender und Aufsichtsratsmitglied der Wolfener Vermögensfirma, der formalen Eigentümerin der gesamten noch nicht privatisierten Agfa-Erbschaft. CDU-Mitglied Krause möchte die Gebäude abreißen, die Maschinen reduzieren, das soll den Arbeitslosen ein wenig Luft verschaffen. Krause hat die „Gesellschaft für Sanierung Wolfen Thalheim“ mitgegründet. 2.500 Arbeitsplätze soll sie bereitstellen und für 780 Millionen Mark diesen Park wieder soweit instandsetzen, daß sich neue Fabriken ansiedeln können.

Chemie muß es sein. „Wolfen war immer eine Chemiestadt“, sagt Krause, und der Chemiker Klaus- Dieter Wenzel, Geschäftsführer der Sanierungsgesellschaft, vermutet wohl zurecht, daß hier keine Bürgerinitiativen gegen Chemieanlagen gegründet werden. Ein Standortvorteil. 16.000 Menschen haben vor der Wende in dem Orwo-Werk gearbeitet. Wenzel, der in der Abteilung für Zellstoffe geforscht hat, quält nicht nur die Zahl der Arbeitslosen, die hiergeblieben sind. Noch mehr schmerzt ihn die Abwanderung der hochqualifizierten Kollegen, „die nie mehr wiederkommen“. Ganze Stapel von Projekten liegen im Aktenschrank des Sanierungsgeschäftsführers. Gleich nach der Wende haben Ingenieure und Grundlagenforscher Arbeitsgruppen gebildet, um endlich die Umweltprobleme in Angriff zu nehmen. Vorschläge für nachwachsende Rohstoffe, Studien für Sanierungstechnik entstanden. Niemand interessierte sich dafür, am wenigsten die Treuhand. Doch richtig aufregen darüber mag sich Wenzel gar nicht mehr. „Was glauben denn Sie, wer hier die Politik macht?“ Immerhin wurden ein paar tausend Meßlöcher in die Orwo-Erde gebohrt, das Ergebnis war verhältnismäßig ermutigend. Ganze fünf Prozent des Grundstücks von 160 ha müssen als verseucht gelten – nicht zu vergessen der weltberühmte Silbersee, der zwar kein Silber enthält, wohl aber faulen Schlamm aus der Zellstoffproduktion. Die alte Agfa hatte ihn schon in eine Kiesgrube gespült, die außer Sichtweite ihres Tempels lag.

Das Wasser stinkt, doch die größte Gefahr droht an anderer Stelle. Als die Agfa kam, brachte sie nicht nur Arbeit und Wohnungen. Auf dem freien Feld probierte die später so stolze Firma ihre Farben aus. Noch heute schillert die Ackergrube manchmal bunt. Die Pigmente hätten längst die Wolfener Brunnen verseucht, wäre nicht zugleich der Grundwasserspiegel gesenkt worden, um Braunkohle abbauen zu können. Die Grube ist heute geschlossen, aber die Pumpen müssen weiterlaufen. Es kostet Millionen in jedem Jahr, diesen einen ökologischen Flurschaden zu bewahren, damit der andere nicht eintritt. Stiege nämlich das Grundwasser wieder an, löste es die alten Chemiereste in der oberen Erdschicht auf, spülte sie ins Wasserwerk. Dagegen zählen 40 Jahre Sozialismus fast nichts. Sie sind wohl bald vergessen, Kinder plantschen im Wasserbecken, daß die Kommunisten auf den Dorfplatz der Nazis gestellt haben. Aber das Gedächtnis chemischer Prozesse ist untrüglich, nicht nur, wenn Filme belichtet werden. Deshalb vielleicht hat der Chemiker Wenzel irgendwann in seinem Leben aufgehört zu Lächeln. Wenn er es doch tut, wie jetzt, sieht er ganz besonders unglücklich aus. Die Agfa-Farben lauern noch in der Erde. Die Firma, die sie hinterließ, steckt in einer Absatzkrise. Nach Wolfen wird sie nicht zurückkehren, aber eigentlich ist sie ja auch nie richtig weggezogen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen