Zwischen den Rillen: Rio Reiser: Über alles
■ Vage Hoffnung auf Widerspruch
Vor gut drei Jahren schrieb Rio Reiser im Spiegel, daß Mick Jagger nicht singen könne und auch ihm, Reiser selbst, jede stimmliche Begabung fehle. Aber im Rock'n'Roll seien exakte Tempi und saubere Dreistimmigkeit ohnehin überflüssig. Diesen Ansichten ist der deutsche Sänger treu geblieben. Auf „Über alles“, seinem neuen Album, knödelt sich Reiser durch simple Akkordfolgen, holpert über Knittelverse und verschluckt mengenweise ganze Silben. Warum sich dafür schämen – im Gegenteil! Stolz erscheint die Nuschelsprache selbst in den Titeln: „Inazitti“, auf schriftdeutsch „In der City“, und Song Nummer zehn ist mit „MHM“ überschrieben, der lakonischen Fassung jenes kehligen Lautes, der Erstaunen oder Zustimmung ausdrücken soll.
Wenn Reiser sein fünftes Soloprodukt „Über alles“ genannt hat, kann er damit kaum einen musikalischen Höhenflug gemeint haben. Die schlichten Melodien und Instrumentalparts verlieren, obwohl sie von Annette Humpe achtsam produziert wurden, schnell ihren Reiz. Um so größere Aufmerksamkeit verlangen die Worte. Wenn „Über alles“ Botschaften transportieren soll, dann lassen sich diese in den Texten finden. Reiser singt über ein glanzloses Leben, über schale Sonderangebote, schnöde Yuppies und vor allem über die Liebe und die mannigfaltigen Erscheinungen ihres Scheiterns.
Verlust ist das Thema, um das alle dreizehn Stücke kreisen. Ganz kann sich der Sänger jedoch nicht entscheiden, ob er das Verlorengegangene zurückfordern, das wenige, das ihm geblieben ist, halten oder ob er sich gar zum ewigen Loosertum bekennen soll. Wie eine Notlösung erscheint es da, wenn er auch anderen den Untergang wünscht, wenn er den Gewinnern des letzten Jahrzehnts mit dem „Wart's ab“ des kleinen Mannes droht. „Es kommt, es kommt und nicht zu knapp“, schickt Reiser an die Adresse eines unsympathischen Aufsteigers, eine Prophezeiung, die sich nur allzu gut macht in einer Zeit, da die Rezession den mageren Wohlstand der Schwachen zu fressen droht.
Solche Manöver klingen seltsam unentschieden für eine Jubiläumsplatte und noch unentschiedener für einen 43jährigen, der bereits an seiner Autobiographie geschrieben hat. Zu berichten gab es ja einiges. Mit fünfzehn Jahren spielte Ralph Möbius, wie Reiser früher hieß, in seiner ersten Band, und bevor er mit 20 zu Ton Steine Scherben fand, schrieb er eine Rock- Oper auf deutsch. Mit dem Scherben-Quintett wurde dann Politik gemacht: Die Mitbesetzer des Kreuzberger Georg- von-Rauch-Hauses debütierten mit „Keine Macht für niemand“ und lieferten damit den Soundtrack für kommende Demonstrationen. Ende der Siebziger durften sich die Scherben getrost als die Pioniere des einheimischen Punk und der Neuen Deutschen Welle betrachten, und es war sicher kein Zufall, daß sich die Band 1985, als NDW noch nicht einmal mehr Spaß verhieß, wegen Verschuldung auflösen mußte. Reiser hatte sich da bereits eine Basis für seinen Alleingang geschaffen. Die Hauptrolle in „Johnny West“ (1977) hatte ihm das Bundesfilmband in Gold gebracht, und ein Jahr vor dem Scherbenbruch veröffentlichte Reiser „Dr. Sommer“, seine erste Solo-Single, der 1986 „Rio I.“ folgen sollte, mit der er sich zum „König von Deutschland“ krönte. Seitdem arbeitet Reiser auch als Texter, Komponist und Schauspieler an verschiedenen Theatern, vornehmlich in seiner Wahlheimat Berlin. 1990 schließlich ließ sich Reiser auf einer Wahlkampfveranstaltung das Parteibuch der PDS von Gysi persönlich überreichen.
Weder von der autonomen noch von der parteigebundenen Politik hat sich viel auf „Über alles“ gerettet. Allenfalls in „Neun99zig“ zürnt Reiser über die trickreichen Sonderangebote im Kaufhaus, die nur der Vermögensbildung der ohnehin schon Besitzenden dienen. Wenn Reiser dann über einen Bankbesuch mit Wasserpistole nachdenkt, ist dies bereits die Spitze seiner Kapitalismuskritik. Alle anderen Stücke sprechen, trotz des Klamauks hier und da, allein von Verlust, sind gereimte Menetekel. Kein Lied erzählt so deutlich vom Verschwinden hoffnungsgeladener Mythen wie „Inazittiy“, ein hektisch gezeichnetes Portrait des neuen Berlin. Was Humpe einst zum Schwärmen brachte, präsentiert sich Reiser bloß noch als Einerlei aus Tauben, Ratten und ehemaligen Rebellen, die sich in den sanierten Bezirken ihr Einkommen sichern. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die alternative Hochburg in eine windige Geschäftsmeile verwandelt hat, fragt sich der Sänger, wie lange wohl sich die wuchernden Aggressionen noch stauen lassen. Ob er aber die Marschierenden fürchtet, die „Deutschland über alles“ wissen wollen, läßt Reiser offen.
Bietet schon das öffentliche Leben keinen Ort zum Verweilen – das private tut es erst recht nicht, obwohl Reiser hier gründlicher sucht. Die meisten Beziehungen zerbrechen, und wenn Reisers Held doch einmal zu emotionalem Überschwang fähig ist, glaubt er, in die „Irrenanstalt“ zu müssen, und wagt die Liebeserklärung nur über die sichere Distanz des Telefons. Selbst Schwulsein thematisiert Reiser, der sich vor Jahren einmal selbst outen wollte, nur verschämt. Kaum vernehmbar entpuppen sich die besungenen Geliebten als Er. Sex schließlich – wer wollte davon noch reden! Reisers Stadtbewohner suchen nur ein Plätzchen, um den müden Kopf zu betten, und versprechen, auf jede Berührung zu verzichten. Es wundert dann kaum, daß Reiser, nachdem er über all das gesungen hat, sich am Ende im Niemandsland ein Refugium suchen will. Die alte Ziegelei am Stadtrand hat es ihm angetan, wo Stille herrscht und wohin niemand findet. Doch so viel Weltflucht steht einem Reiser nicht gut zu Gesicht. „Über alles“ schließt darum mit Matthäus XI, Vers 15: „Wer Ohren hat, zu hören, der höre“. Nämlich, daß hier, zwischen all den Metaphern der Resignation, einer auf Widerspruch hofft. Claudia Wahjudi
Rio Reiser: „Über alles“, CD/MC, Sony
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