Sanssouci: Vorschlag
■ Das „Potsdamer Abkommen '93“ im Lindenpark
Ostwärts in alle Richtungen! So schallt es in dieser Woche vollmundig nach Berlin herein. Quelle des Lärms: Potsdam, Lindenpark. Von heute bis Samstag spielen jeweils drei Bands pro Abend bei einem Festival, das sich griffig „Potsdamer Abkommen '93“ nennt. Eine Art Abgesang auf die Präsenz unserer Befreier, Besatzer, Überbringer der Soljanka oder des Hamburgers.
Der Chor der abziehenden Roten Armee hat leider sein Gastspiel abgesagt, dafür taucht bei dem weltmusikalisch orientierten Programm eine Gestalt auf, die die Geschichte des Sozialismus geradezu schicksalhaft geprägt hat: Billy Bragg. Er spielte vor den streikenden Bergarbeitern in England, er spielte kurz vor den Wahlen in Nicaragua für die Sandinisten, und er spielte in der DDR. Die Folgen sind in allen drei Fällen bekannt. Der bekennende Marxist, der bei seinem Ost-Berlin-Gig gegen die Auflagen der FDJ-Kader auch „kritische Lieder“ sang, zog dann kurzzeitig in die Kuschelecke um und besang seine und unsere „sexuality: wild and worm and free“. Peinliche Texte und große Wahrheiten bringt Billy Bragg gewürzt mit sarkastischen, ironischen Geschichten englisch unters Volk. Live ist er meist allein mit seiner Gitarre und an guten Abenden schlicht herzerweichend. (Freitag 20 Uhr, mit Lubeh aus Moskau und Subway to Sally aus Potsdam im Lindenpark).
Sollte der Sommer wider Erwarten doch noch auftauchen, finden alle vier Konzerte im Garten des Lindenparks statt. Ansonsten drin. Eröffnen werden das Festival heute abend die Klezmatics aus New York. Eigentlich überflüssig, die Erneuerer des traditionellen, jüdischen Klezmer hier noch vorzustellen. Sie aber führen uns auf die Spur des vermeintlich chaotischen Konzepts des Potsdamer Abkommens. Ihren ersten bejubelten Auftritt hatten die Klezmatics bei den ersten Berliner Heimatklängen anno '88. Dort brachte man eine Sammelsurium von Bands zusammen, viele aus Richtung Osten und Balkan. Ein ungeahnt politisch richtungweisendes Konzept des Musikethnologen Christoph Borkowsky, der seine Chaostheorie nun in Potsdam weiterführt. Chaos mit System, oder auch ohne. Niemand weiß vorher, was passiert, wenn nach den Klezmatics der St. Petersburger Sergey Kuryokhin, Aushängeschild der Underground-Combo Popularnaja Mechanika, auftritt. Nach dem Mann, der schon Flügel auf der Bühne zersägt haben soll, folgt postwendend der nächste Schock eines Programms, das wie Unkraut ins Gemüse schießt: Poor Little Critters, eine Berliner Topfpflanzenkreation, gewachsen auf dem Kompost der Beatitudes.
Morgen dann Ska aus Berlin von Blechreiz, Ostvolxpop von Baba Yaga aus Moskau und Budapest und als dritte Apparatschik, „auf der Suche nach der russischen Seele Berlins“. Ein Experiment eben. Spannend wie früher der Chemieunterricht, wenn Pech und Schwefel den Klassenraum in beißenden Nebel hüllten und wir unsere Chinaböller unter dem Giftschrank zündeten. Ich mußte damals die Zündschnur besorgen. Andreas Becker
Potsdamer Abkommen '93, vom 1.–4.9., täglich 20 Uhr im Lindenpark Potsdam, Stahnsdorfer Straße 76, S-Bhf. Griebnitzsee
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