: Wieviel Zaun braucht der Fan?
Immer mehr Fußballklubs überdenken das Konzept des eingezäunten Zuschauers, in Kaiserslautern fordern Fans: „Der Zaun muß weg!“ Vom Käfig zurück in die Eigenverantwortung? ■ Von Christoph Biermann
Die Atmosphäre im Stadion würde gereizt sein, das war allen Verantwortlichen des 1. FC Kaiserslautern klar. Äußerst gereizt sogar.
3:1 hatten sie im Oktober 1992 ihr Uefa-Pokalhinspiel im Fritz- Walter-Stadion gewonnen, und bei Sheffield Wednesday war man schlecht auf die „roten Teufel“ vom Betzenberg zu sprechen: Einen Elfmeter hätten sie herausgeschunden, und Marco Haber hätte theatralisch einen Platzverweis provoziert. Aber man würde sich in Sheffield wiedersehen.
Die Karten für das Rückspiel bestellte Klaus Fuchs, der Kaiserslauterner Geschäftsführer. „Ich wollte natürlich Plätze direkt hinter dem Tor haben, möglichst nah am Spielfeld. Damit die Mannschaft die Unterstützung ihrer Fans auch spürt. Aber dann hörte ich, daß dort keine Zäune sind, und habe einen Block ausgesucht, von dem aus man das Spielfeld nicht erreichen kann.“
Die Entscheidung war ganz automatisch gefallen. Fans brauchen eben Zäune, damit sie nicht aufs Spielfeld laufen können, wenn's hitzig wird. Am Tag des Spiels heizten gleich zwei Stadionsprecher im Hillsborough-Stadion die Fans an. Die Atmospäre war geladen. Kaum berührte Marco Haber den Ball, wurde er ausgebuht, die Zuschauer schüttelten ihre Fäuste und machten obszöne Gesten. Der 1. FC Kaiserslautern hielt zum Ärger der Gastgeber seinen Vorsprung aus dem Hinspiel. Dennoch: Das Spielfeld blieb tabu. Kein einziger Sheffield-Fan stürzte nach dem Abpfiff über das niedrige Mäuerchen auf den Platz, um seine Enttäuschung an Marco Haber abzureagieren.
Für den Vereinspräsidenten des 1. FC Kaiserslautern, Norbert Thines, war das ein „Aha-Erlebnis“. Und Klaus Fuchs verspürte einen weiteren Anstoß für einen „Umdenkungsprozeß“ in Richtung zaunlose Fußballgesellschaft.
Begonnen hatte dieser ein Jahr zuvor, beim vorentscheidenden Spiel um die deutsche Meisterschaft gegen Mönchengladbach. 2:3 lag die Mannschaft zurück und brauchte unbedingt den Ausgleichstreffer, um sich vorzeitig den Titel zu sichern. „Ich bin froh, daß wir damals dieses Tor nicht geschossen haben, denn dann hätte es Tote gegeben“, sagt Fuchs heute. „Die Fans waren so unglaublich aufgeladen, daß beim Ausgleichstor alle zum Spielfeld gestürzt wären. Und dann wäre der Zaun zur Falle geworden.“
So wie im April 1989 in jenem Hillborough-Stadion in Sheffield. 95 Fans des FC Liverpool starben in einem überfüllten Block. Erdrückt, nicht als Folge von Hooligan-Gewalt, sondern eines Organisationsfehlers der Polizei und eines Zauns, der die Flucht auf das Spielfeld verhinderte. „Man hat uns wie Tiere behandelt“, resümierte ein Fan. Noch vier Jahre später leiden in Liverpool Menschen unter den Folgen. Auch psychisch, wie etwa ein Vater, dessen Tochter neben ihm starb, ohne daß er helfen konnte.
Am 23. August dieses Jahres nahm der Umdenkungsprozeß beim 1. FC Kaiserslautern Form an. In einem Brief an Egidius Braun, den Präsidenten des Deutschen Fußball Bundes (DFB), schlug der Verein vor, ein Pilot- Projekt zu starten: „Fans brauchen keine Zäune.“ Der Vorschlag: Zur nächsten Spielzeit soll vor einem ausgewählten Block im Fritz-Walter-Stadion der Zaun entfernt werden. Mit umfangreicher Öffentlichkeitsarbeit will der Klub das Projekt begleiten, um seinem Wunsch näherzukommen, „gemeinsam einen Weg zu finden, der die Stadien wieder menschenwürdiger macht“.
Menschenwürdig sind in Deutschland nicht viele Stadien. In Folge eines „restriktiven Prozesses“, so Klaus Fuchs, wirken sie mitunter eher wie „Hochsicherheitstrakte“. Noch schlimmere Assoziationen hat DFB-Mitarbeiter Wolfgang Holzhäuser: Er fühlt sich „angesichts dieser Arien von Zäunen daran erinnert, wie ich mir früher KZs vorgestellt habe“.
Stadionbesucher sind zum Sicherheitsproblem geworden, die Zäune, die seit Mitte der siebziger Jahre Pflicht sind, Teil dieser Entwicklung. Mit mehr Polizei, mehr Überwachung und baulichen Veränderungen gelang es, die Fußballgewalt aus den Stadien weitgehend zu verbannen. Nun entlädt sie sich an Spieltagen einfach an anderen Orten, mitunter weit vom Stadion entfernt.
Dort zurückgeblieben ist eine „Spielfeldumfriedung“, wie es im Jargon der Sicherheitsexperten heißt. Eine Umfriedung, die Symbolcharakter hat: Nichts macht die Entfremdung zwischen Verein und Spielern auf der einen Seite und den Fans in der Kurve auf der anderen sinnfälliger. 30 Jahre Bundesliga hat aus Spielern Stars gemacht, die in fremden Traumwelten leben. Und die Vereine heißen nur noch so, sind aber längst mittelständische Unternehmen der Unterhaltungsbranche. Die eruptiven Zuneigungs- oder Abneigungsbezeugungen der Fans sind ihnen nicht geheuer. Und als wäre es der Distanz noch nicht genug, wurde den Spielern mit Beginn dieser Spielzeit auch noch verboten, bei einem Torerfolg in die Kurve zu laufen, um sich, vielleicht sogar auf dem Zaun stehend, von den Fans feiern zu lassen.
Als die Fans des VfL Bochum Ende November 1992 ins Ruhrstadion kamen, trauten sie ihren Augen nicht. „Auf einmal war der Zaun fünf Meter nach hinten versetzt. Warum, das hat uns niemand gesagt“, staunt Uli Börnke vom VfL-Fanrat. Die Stadt hatte die Sicherheitsvorgaben des DFB erfüllt, damit konnte man sich am Fuß der Kurve nicht mehr frei bewegen, die Blöcke waren mit Zäunen abgeteilt worden. Als es dadurch bei einem Bundesligaspiel und beim Länderspiel gegen Ghana zu gefährlichem Gedränge kam, organisierte sich der Protest. Eine „Zaun-AG“ wurde gegründet. Axel Treffner macht mit – aus persönlicher Betroffenheit: „Seit der Zaun so nah herangerückt ist, ist die Stimmung gereizter geworden. In einer Halbzeitpause gab es solch ein Gedränge, daß jemand, der an mir vorbei wollte, plötzlich ausgerastet ist. Dann gab es einen kurzen Kopfstoß und mein Nasenbein war gebrochen.“
Die Forderung der Fans ist klar: „Der Zaun muß weg!“ T-Shirts mit dem Slogan wurden gemacht, Flugblätter gedruckt, 2.500 Unterschriften gesammelt, auch der Trainer, einige Spieler und der Vorstand unterschrieben, bis man auf einmal merkte, daß die Forderung vielleicht doch nicht so ganz klar war. Bei einigen Diskussionen stellte sich heraus, daß zunächst eigentlich gemeint war: „Der Zaun muß an die alte Stelle zurück.“ Längst ist nämlich eine Generation von Fußballplatzbesuchern herangewachsen, für die der Zaun ein elementarer Bestandteil eines Stadions ist. Oder wie Uli Börnke, der noch Fußball ohne Zäune kennengelernt hat, sagt: „Für die ist das, als wollte man die Eckfahnen abschaffen.“ In Kaiserslautern meldeten sich sogar schon Fans, die ihre Zäune unbedingt behalten wollen.
Selbst beim FC St. Pauli, dessen Anhänger notorisch fortschrittlich und politisch aufmerksam sind, scheint die potentielle neue Freiheit nicht nur Begeisterung hervorzurufen. Für den Vizepräsidenten Christian Hinzpeter, einen Rechtsanwalt, der eine Karriere vom Fan zum Geschäftsführer hinter sich hat, „ist das mit den Zäunen ein altes Steckenpferd“. „Bei uns ist das sehr kontrovers diskutiert worden“, sagt Sven Brux vom St.-Pauli-Fan-Laden. „Ich kenn' einige Leute, die ohne Zaun kaum mehr zu stoppen wären, wenn da irgendwelche Faschos im Gästeblock den Affen machen.“ Wer also trägt für den Fortschritt der freien Sicht die Verantwortung?
Die Antwort ist einfach: Es geht nur, wenn die Fans symbolische Grenzen akzeptieren. „Das Ganze ist doch keine reine Absperrungsfrage. Wir wollen die Leute wieder für ihr Verhalten verantwortlich machen“, sagt Klaus Fuchs. Die ungehinderte Sicht aufs Spielfeld wäre eine Belohnung für gewaltloses Verhalten. Der Fußballverein als Erziehungsinstanz? Können Fußballclubs für mehr stehen als für Erfolgsmaximen und Traumgehälter? Norbert Thines, früher Diözesansekretär beim Kolpingwerk, der sich gerne als „Herz-Jesu-Marxist“ titulieren läßt, ist davon jedenfalls überzeugt: „In das Vakuum, das Parteien, Kirchen und Gewerkschaften hinterlassen haben, können wegen ihrer Popularität teilweise die Fußballvereine stoßen und gesellschaftspolitische Aufgaben übernehmen.“ Deshalb organisierte der Verein im Sommer auch ein internationales Zeltlager für 800 Jugendliche unter dem Motto „Jugend für Europa“, verbannte die Reichskriegsflagge aus dem Stadion und bekam von Umweltminister Töpfer die Auszeichnung für das umweltfreundlichste Bundesligastadion.
Solche Anstrengungen und die Bemühungen um Abrüstung im Stadion zeigen, daß sich bei einigen Vereinen nach den Jahren des allgemeinen Kommerzialisierungstaumels wieder eine erhöhte soziale Aufmerksamkeit entwickelt. Neben Kaiserslautern, St. Pauli und Bochum hat sogar der 1. FC Bayern München sein Interesse an der Aktion „Fans brauchen keine Zäune“ angemeldet. Auch aus Frankfurt, Bremen und Dortmund kam zurückhaltende Zustimmung.
Vor allem aber war die erste Reaktion von DFB-Chef Egidius Braun ausgesprochen positiv. Braun, ein Mann aus dem rheinisch-katholischen Milieu, hat als Nachfolger des stockreaktionären Hermann Neuberger einen neuen Kurs eingeschlagen. Dem 1. FC Kaiserslautern und seinen Präsidenten schrieb er: „Sie haben es wieder einmal geschafft, mich zu beeindrucken. Der Club und seine Mitglieder, Sie an der Spitze, haben Ihre Verantwortlichkeiten erkannt.“
Inzwischen versucht Wolfgang Holzhäuser, eine Entscheidung der DFB-Sicherheitskommission zu erwirken. Doch deren Vorsitzender Wilhelm Hennes mauert: „Das kann Monate dauern“.
Tatsächlich sind noch viele Fragen zu klären. Wer darf überhaupt mitmachen und zu welchen Bedingungen? Wer übernimmt die Verantwortung? Fühlen sich Klubs, die eigentlich gar nicht wollen, oder es ihrer Klientel nicht zutrauen, unter den Druck gesetzt nachzuziehen? Schlagen gar alte Animositäten bei der Beschlußfassung durch? Leverkusens Manager Calmund giftete schon: „Grundsätzlich positiv, aber nicht in Kaiserslautern.“ Bei der „Zaun AG“ der Fans vom Zweitligisten VfL Bochum trübt indes nichts der Blick. Ihr Klassenziel steht fest: „Freie Sicht in die Erste Liga!“
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