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Albanien: Skizzen einer Reise

Das unter der Hoxha-Diktatur isolierte Land ist auf dem langen Marsch in die Marktwirtschaft. Doch bei den Menschen produziert das Chaos der Umstellung nur Resignation. Der Tourismus gilt als Hoffnungsträger der Zukunft  ■ Von Ursula Wöll

Sehr früh morgens fängt es an zu rauschen. Das Wasser kommt und füllt die Badewanne. Frau Erwehe ist schon auf den Beinen, um auch das Arsenal von Schüsseln aufzufüllen. In Tirana, das vierzig Kilometer landeinwärts liegt, ist es drückend heiß im August. Eine Dusche wird zur Köstlichkeit. Hierzu muß man sich vor die Wanne stellen und das Wasser über sich schöpfen, das durch einen Abfluß im Badezimmerboden verschwindet. Das gebirgige Albanien ist eigentlich ein wasserreiches Land, aber das Leitungssystem ist so marode, daß die Städter nur wenige Stunden am Tag Wasser bekommen.

Die Umstellung auf die Marktwirtschaft hat die Mieter der oberen Etage arbeitslos gemacht. Sie teilen das Schicksal von über 80 Prozent der unter der Hoxha-Diktatur Berufstätigen. Diese vielen Arbeitslosen erhalten, begrenzt auf ein Jahr, etwa 1.500 Lek (15 Dollar) monatliche Unterstützung vom Staat. Frau Erwehe und ihre Schwester Minire sind ähnlich schlimm dran. Beide sind Rentnerinnen, 35 Jahre war jede berufstätig, wodurch ihre Herzlichkeit, mit Selbstbewußtsein gepaart, unwiderstehlich ist. Sie erhalten die übliche monatliche Rente von 1.800 Lek (18 Dollar). Kostete ein Brot vor einem Jahr noch 5 Lek, so sind es heute schon 50 Lek. Ein Kilo Fleisch ist nicht unter 250 Lek zu haben, deshalb sind Spiegeleier groß in Mode. Der griechische Kaffee, den mir die Schwestern zum Frühstück brauen, kostet je Pfund dasselbe.

Die Schwestern haben noch Glück. Der im Haushalt lebende Neffe bringt es als Facharzt auf ein Monatsgehalt von 40 Dollar. Wen wundert es da, daß es üblich wurde, ein Handgeld zu zahlen, um pünktlich im OP zu liegen und optimale Pflege zu erhalten, der sowieso schon durch den Medikamentenmangel Grenzen gesetzt sind.

Wie existieren die Menschen eigentlich? Selbst Bashkir Zenelli weiß darauf keine Antwort. Als Parlamentsabgeordneter verdient er ganze 80 Dollar, seine Frau steuert ein schmales Lehrerinnengehalt bei. Selbst sie müssen sich auf die Lebensnotwendigkeiten beschränken. Die Straßen sind überall gesäumt mit kleinen Verkaufsständen. Meine Zigaretten kaufe ich gleich vor dem Haus. Ich bin wohl die einzige, die eine albanische Marke wählt. Fünfzig Meter weiter gibt es importierte Bananen. Der junge Mann hat außerdem elf überdimensionierte Glühbirnen im Angebot, deren Zahl auch nach einer Woche nicht geschrumpft ist. Daneben hat jemand auf einer Plane die vielen neu entstehenden Zeitungen ausgebreitet. Sie sind dünn und unsauber gedruckt, aber billig, so daß dieser Stand abends ausverkauft ist. In der Nähe des Skanderbeg-Platzes warten Scharen von lizenzierten Geldwechslern, dicke Lek-Bündel schwenkend, auf die wenigen Dollarkunden.

Ohne die Zuwendungen der im Ausland arbeitenden Familienangehörigen liefe gar nichts. 10 Prozent der 3,5 Millionen Einwohner haben es geschafft, in Griechenland, Italien oder anderswo aufgrund ihrer qualifizierten Ausbildung Arbeit zu finden. Hatte sich Albanien unter der Hoxha-Diktatur selbst völlig isoliert, so baut Europa nun unsichtbare Mauern, obwohl jeder Albaner versichert, daß sein Land zu Europa gehört. Wer nun endlich einmal reisen will, beispielsweise nach Deutschland, braucht für sein Visum die beglaubigte Einladung eines Gastgebers, der für alle Kosten geradestehen muß.

Ich dagegen kann mich ohne Visum unter die Flaneure mischen. Abend für Abend sperren Polizisten den breiten Boulevard vom Skanderbeg-Platz bis hin zur Universität für die wenigen Autos, halb Tirana ist hier auf den Beinen. Keine mausgraue Gesellschaft ergeht sich da, wie man es nach einer so langen Diktatur unwillkürlich vermutet. Die Männer tragen Bluejeans und T-Shirts, auf denen sie, da, wo das Herz sitzt, für Yamaha oder Marlboro werben. Die Frauen zeigen italienischen Chic, der auf uralten Singer-Nähmaschinen hausgeschneidert oder Mitbringsel ist, denn elegante Geschäfte sind nicht auszumachen. Die Flaneure sind jung, kein Wunder, Albanien hat das niedrigste Durchschnittsalter Europas. Konsumiert wird nichts, man setzt sich zwischendurch auf ein Mäuerchen unter den Bäumen oder in die angrenzenden kleinen Parks und redet miteinander.

Ich schnappe die Worte „ksa problem“ (kein Problem) auf, neben„awasch, awasch“ (langsam, langsam) das einzige, was ich schnell lerne. Allenthalben trifft man auf Leute, die Italienisch, Englisch und sogar Deutsch beherrschen. Das Bildungsniveau ist hoch, denn unter Hoxha wurde die zwölfjährige Schulpflicht für alle eingeführt. Der Zwang, im Fach „Historischer Materialismus“ Dogmen herzubeten, entlud sich dann in einer ungeheuren Wut auf alles, was mit Kommunismus identifiziert wurde. Sogar die eigenen Fabriken und Schulen mußten dran glauben: Die Fensterscheiben wurden zerschmettert, das Mobiliar entführt. Schulbücher mit neuen Inhalten gibt es kaum, daher wurden die Ferien erst mal verlängert. Die Lehrerin Etleva bedauert, daß amerikanische Sekten den Mangel ausnutzen und durch Buchschenkungen nun ihre religiösen Dogmen verbreiten.

Traditionell waren 70 Prozent der Bevölkerung muslimisch, 20 Prozent orthodox und 10 Prozent katholisch. Doch Hoxha hatte 1967 die religiösen Stätten geschlossen, so daß es heute keine religiöse Dimension im Leben der meisten Albaner gibt und die Rufe des Muezzins von der Ethem-Bey-Moschee – die zu den wenigen baulichen Zeugnissen einer islamischen Tradition gehört – unbeachtet verhallen. Die Gemeinde hat an den Außenwänden große Hinweistafeln anbringen müssen, die den Vollzug des Gebetsritus erläutern, weil er dem kollektiven Gedächtnis verlorenging.

Der lange Widerstand des christlichen Nationalhelden Skanderbeg gegen den Ansturm der Osmanen um 1450 wird nahezu mystifiziert, und das Historische Museum vernachlässigt die Jahrhunderte der osmanischen Herrschaft auffällig. Ein zweiter nationaler Freiheitskampf dagegen wird heruntergespielt. Gemeint ist der Partisanenkampf gegen Mussolinis und Hitlers Besatzungstruppen, durch den sich Albanien Ende 1944 aus eigener Kraft befreien konnte und der 28.000 Partisanen das Leben kostete. Im Museum versperrt eine dicke Bretterwand den Blick auf die Zeitgeschichte, weil sie umgeschrieben wird, und zwar schon ab 1939. Und just am Tag meines Besuches tagt die nationalistische Barrist-Partei in einem Nebenraum. Die greisen Nazi-Kollaborateure sind aus dem Exil heimgekehrt.

Frau Erwehe erzählt, daß sie ihren Arbeitsplatz wegen einer neuen Idee verlor. Das Arbeitslager blieb ihr erspart. Verständlich, daß alles in Bausch und Bogen weggeworfen wurde, was nur mit den Zigtausenden von über das Land verstreuten kleinen Betonkuppel-Bunkern nicht möglich war. Doch wie soll das Chaos der Umstellung überwunden werden? Das italienische Fernsehen liefert Träume, aber keine Gebrauchsanweisungen. Statt Aufbruchstimmung ist eher Resignation spürbar. Die Kritik an der regierenden Demokratischen Partei wird weiter wachsen, wenn im Februar die Mieten freigegeben werden. Bis dahin soll die Privatisierung der Wohnungen abgeschlossen sein. Während meines Aufenthaltes mobilisierte die Sozialistische Partei 50.000 der 350.000 Einwohner Tiranas, die immer wieder „Neuwahlen“ skandierten. Diese sozialdemokratisch orientierte größte Oppositionspartei logiert trotz ihrer 82.000 Mitglieder in einem spärlich möblierten Haus, in dem schon elektrische Schreibmaschinen zum Blickfang werden.

Doch vielleicht werden die Weichen gar nicht alle in Tirana gestellt, denn Albanien muß sich den Bedingungen der internationalen Geldgeber unterwerfen. In den Ministerien sitzen ausländische Berater. Sie regen Gesetze an, die dann aufgrund ihres italienischen, deutschen oder sonstigen Stallgeruchs nicht so recht zusammenpassen wollen.

Landpartie. Meine Gastgeberinnen nehmen mich zu einer entfernten Verwandten mit. Die Straße ist schmal, die Felder gleichen Flickenteppichen, Monokulturen fehlen. Melonen, Sonnenblumen, Wein, abgeerntete Getreideflächen, Bäume, alles wächst buntgemischt. Dazwischen grasende Kühe, Ziegen, Schafe, Esel, natürlich unter strenger Aufsicht. Neue Steckenzäune um die Gärten. Wir bekommen Börek – Blätterteigtaschen mit Schafskäse gefüllt – serviert. Gegen 14 Uhr kommt der Hausherr vom Markt der nahen Kleinstadt zurück. Die großen Seitentaschen seines Maultieres sind leer. Sechs Nachbarn haben für den Heimritt einen Konvoi gebildet, weil sie immer noch fürchten, daß ihnen jemand den Verkaufserlös raubt. Das Dorf war früher eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Heute sind die ehemaligen Landarbeiter stolze Landbesitzer von je gut einem Hektar. Obwohl es ihnen nur unwesentlich besser geht, sind die Bauern doch die einzigen, die optimistisch in die Zukunft blicken. Angebaut wird bisher meist nur für den Eigenbedarf. Das Transportproblem und die fehlende Verarbeitungsindustrie erzeugen verrückte Widersprüche: Trotz seiner sechs Millionen Olivenbäume importiert Albanien Öl aus Italien, und trotz seines Obstreichtums kommen ganze Lawinen von Weißblechdosen mit Limonade aus Griechenland.

Am Strand von Saranda im Süden des Landes, einen Steinwurf vom lauten Korfu entfernt, tauchen schon ab und zu Touristen auf, die die paradiesisch gelegenen archäologischen Stätten von Butrint besuchen. Das Land setzt große Hoffnungen auf den Devisenbringer Tourismus. An Gutachten für sanfte Konzepte mangelt es nicht. Aber wird die Regierung, die ja auf ausländische Investoren hofft, den Mut zu Vorschriften aufbringen, mit den letzten 400 Kilometern jungfräulicher Mittelmeerküste und den unberührten Bergregionen schonend umzugehen?

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