: „Ganzheitlicher Brei“
■ betr.: „Memminger Staatsgewalt“ (Memminger Staatsanwaltschaft filzt Arztpraxis), taz vom 28.12.93, „Memminger Krankenakten ver nichtet“, taz vom 29.12.93
Die vorgebrachte Kritik an der Aussage des Chefs der Uni-Kinderklinik Ulm, das Kind habe ohne chemotherapeutische Behandlung nur noch 100 Tage zu leben, ist in Teilen berechtigt. Seriöse Vorhersagen zur Lebenserwartung eines bestimmten Menschen können mit dieser Sicherheit und Genauigkeit in der Regel nicht gemacht werden. Ein gut kalkuliertes Beispiel dazu gibt uns Erich Honecker in Chile. Ohne nähere Information über die Art der Leukämieerkrankung kann ich mich hier nur auf die wahrscheinlichste, das heißt im Alter von 4 bis 5 Jahren häufigste Leukämieform beziehen: die akut lymphatische bzw. lymphoblastische Leukämie (ALL), die insgesamt etwa 30 Prozent aller Krebskrankheiten im Kindesalter (unter 15 Jahren) ausmacht.
Vor Einführung der in der Tat mit schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen belasteten kombinierten Chemotherapie lag die mittlere Lebenserwartung eines an ALL erkrankten Kindes noch bei zwei bis drei Jahren. Nur fünf bis zehn Prozent der erkrankten Kinder überlebten die ersten fünf Jahre nach Diagnose der Leukämie (Eder, Gedigk; 1977). Inzwischen wird im Jahresbericht des Deutschen Kinderkrebsregisters (1992) für 3.882 zwischen 1987 und 1991 an ALL erkrankte Kinder eine Fünfjahreslebensrate von nicht mehr fünf bis zehn Prozent, sondern von 77 Prozent ermittelt. Von zehn Kindern überlebte also ohne optimale Therapie nur eines die ersten fünf Jahre, während heute nur jedes fünfte Kind vor dieser Zeit verstirbt. Das heißt jedoch auch, daß ein an Leukämie erkranktes Kind ohne entsprechende Therapie mit Glück überleben kann, so wie es trotz optimaler Therapie daran sterben kann. [...]
Die Eltern Scharpf sind ganz sicher nicht die ersten Eltern, denen es unerträglich erschien, die Qualen ihres Kindes während der Chemotherapie mit ansehen zu müssen. Der Zeitraum zwischen zwei chemotherapeutischen Zyklen dient der physischen und psychischen Erholung. Es ist daher selbstverständlich, daß mit zunehmendem Abstand zur letzten Chemotherapie eine Besserung des Befindens eintritt. Über diese Zusammenhänge scheinen die Eltern Scharpf im Unterschied zu Tausenden Eltern in ähnlicher Lage nicht richtig informiert gewesen zu sein. Ich kann nicht beurteilen, ob die behandelnden Ärzte bei der Aufklärung der Eltern zu ungeschickt oder zu ungeduldig vorgingen oder ob die Eltern starrsinnig und uneinsichtig waren.
Das Kind, für dessen Schicksal die Eltern so vehement gekämpft haben wie Michael Kohlhaas um sein Recht, ist tot. Das Interesse der Staatsanwaltschaft an der Todesursache ist mir verständlich, das fehlende Interesse der Eltern daran ist mir eher suspekt. Der Arzt, der „die Aufzeichnungen, die wir (die Eltern und er?) auf privater Basis erstellt haben (hat), mit allen übrigen wissenschaftlichen Aufzeichnungen“ vernichtet wie die Stasi 1989 ihre Unterlagen, vernichtet Beweismaterial, das ihn scheinbar nicht entlastet, sondern belastet hätte. Möglicherweise handelt es sich hier um passive oder aktive Sterbehilfe für eine Fünfjährige. Wer dies in einen Zusammenhang mit dem makabren Versuch einer Leichenschwangerschaft setzt, zeigt nur, daß er nicht zwischen den Rechten einer nicht volljährigen Person und eines sogenannten Ungeborenen zu unterscheiden weiß. Kinder gehören nicht zum unveräußerlichen Besitz ihrer Eltern. Sie haben eigene unveräußerliche Rechte, von denen das auf Leben das erste und wichtigste ist. Dr. J. Bertz, Berlin
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