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Das Stapeln der Straßen hilft nicht

Beim Verkehrschaos haben die chinesischen Städte inzwischen schon Westniveau erreicht  ■ Von Jadwiga Adamiak

Ein Nachmittag bei 33 Grad Celsius und 75 Prozent Luftfeuchtigkeit in Kanton beziehungsweise Guangzhou in neuerer Schreibweise. Nach der Besichtigungstour durch die südlichste chinesische Millionenstadt sitzt man im eigenen Saft gedünstet im Bus. Das Hotelzimmer mit der Dusche ist nicht mehr weit weg: zu Fuß wären es zehn Minuten, mit dem Bus wird es in den verstopften Straßen wohl eine halbe Stunde dauern, scherzt die örtliche Reiseführerin. So fühlen sich also Chinas Infrastrukturprobleme hautnah an.

Mit der Öffnung Chinas hin zu mehr Marktwirtschaft haben sich die Engpässe beim Personen- und Güterverkehr sowohl im Nah- als auch im Fernbereich verschärft. Das liegt einerseits daran, daß zu wenige Flugzeuge für die innerchinesischen Strecken bereitstehen, es nicht genug Züge gibt (wobei nur zwei Städteverbindungen elektrifiziert sind) und schließlich Busse oder U-Bahnen im innerstädtischen Verkehr fehlen. Andererseits sind die Straßen dem starken Zuwachs des Individualverkehrs noch in keinster Weise gewachsen.

Mit der größeren ökonomischen Freiheit gibt es offensichtlich etliche Leute, die sich einen Wagen leisten können, obwohl das nicht leicht sein dürfte. Die Regierung hält die Preise für Personenwagen sehr hoch, um die Zunahme des Kraftfahrzeugbestands zu dämpfen. Ein westliches Automodell wie beispielsweise ein VW- Santana kostet rund 200.000 Yuan (1 DM = ca. 3,5 Yuan nach offiziellem Wechselkurs). Für diese Summe kann man auch eine Drei- Zimmer-Eigentumswohnung bekommen, die im Rahmen der neuen Politik zur Finanzierung des Wohnungsbaus zum Verkauf steht. Trotzdem ist das Auto viel teurer als die Wohnung, weil bei dieser Anschaffung Betrieb und Staat nicht – wie beim Kauf einer Wohnung üblich – jeweils ein Drittel des Kaufpreises zahlen.

Osteuropäische Automarken sind schon für 70.000 Yuan zu haben. Sie kosten damit etwa soviel wie der Eigenanteil bei einem Wohnungskauf. Das ist ein erklecklicher Betrag bei einem Monatseinkommen von rund 3.000 Yuan. Ein Durchschnittseinkommen in dieser Höhe gilt aber nur für die südchinesischen Küstenprovinzen, wo die Wirtschaft boomt. Im Norden und im Landesinneren sind die Löhne deutlich niedriger.

Trotz der hohen Preise und der Beschränkung der Neuzulassungen bei Personenwagen dominieren auf den Straßen chinesischer Städte nicht mehr die Fahrräder. Die Stahlrösser spielen allerdings bei der Beförderung von Personen und Gütern immer noch eine sehr große Rolle. Dafür sorgen schon die Anschaffungskosten. Schließlich ist ein einfacher Drahtesel für 300 Yuan zu haben. Für ein anspruchsvolles Modell mit Gangschaltung, das sich als Statussymbol eignet und bei Jugendlichen sehr begehrt ist, sind etwa 7.000 Yuan hinzublättern.

Der Besitz eines dreirädrigen Lastenfahrrads kann schon eine Existenzgrundlage als Spediteur darstellen. Damit lassen sich kunstvoll auf der Ladefläche aufgetürmte Berge von Papierrollen in einer kleinen Karawane aus drei Vehikeln langsam, aber stetig ihrem Ziel entgegenfahren. Oder ein Bündel meterlanger Holzlatten, die vorn und hinten den Drahtesel weit überragen, schwebt an den Fußgängern vorüber. Auch vor dem Transport von festgezurrten Sofas oder sogar Schweinehälften machen die Lastenfahrer nicht halt. Stellt man einen Stuhl auf die Ladefläche, eignet sich das Gefährt zur Personenbeförderung und konkurriert mit den echten Rad-Rikschas, die den Fahrgast mit einem gepolsterten Sitz und Sonnendach verwöhnen.

Natürlich können die Fahrer bei dem dampfbadähnlichen Klima keine Geschwindigkeiten wie bei der Tour de France vorlegen. Aber selbst das gemäßigte Tempo läßt einer europäischen Langnase, die von Wasserstand zu Wasserstand schleicht, allein vom Zuschauen noch zusätzliche Schweißtropfen auf die Stirn treten.

Nachdem Peking 1949 zu Chinas neuer Hauptstadt auserkoren worden war, räumte man bei der Modernisierung der Stadt den Fahrrädern einen angemessenen Raum ein. In den neu angelegten Straßen sind die für Pedalritter reservierten Wege so breit wie die Autospuren – und erwecken damit den Neid jener Touristen, die sich zu Hause mit dem durch einen Strich abgeteilten Raum auf dem Gehweg begnügen müssen. Während die Stadt bei der Erneuerung der Straßen in die Breite gegangen ist, expandierte man bei den Häusern in die Höhe, um den dringend notwendigen zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. Von den traditionellen Hofhäusern – ebenerdige oder einstöckige, um einen Innenhof gruppierte Gebäude ohne sanitäre Anlagen, mit Kohleöfen – sind nur noch Inseln geblieben. Mit den Bauten verschwand auch ein Großteil der engen Straßen, was sicher dazu beigetragen hat, den Verkehrsfluß in der Stadt zu beschleunigen. Aber den Staus in den Stoßzeiten entkommt die chinesische Hauptstadt dadurch nicht. Immerhin wohnen mittlerweile im Raum Peking rund zehn Millionen Menschen, zu denen sich pro Jahr noch zwei Millionen inländischer Touristen gesellen.

Suchte man in Peking dem Verkehrsinfarkt mit der Ausdehnung in die Breite auszuweichen, so setzte Guangzhou darauf, durch Übereinanderstapeln von Straßen eine ausreichende Infrastruktur für das steigende Verkehrsaufkommen bereitzustellen. Diese Lösung bot sich nicht zuletzt deshalb an, weil der Innenstadtbereich der Drei-Millionen-Metropole mit vielen historischen Bauten noch weitgehend intakt geblieben ist. Die zweispurigen Hochstraßen verlaufen etwa in Höhe des zweiten Stockes der anliegenden Häuser über den vierspurigen ebenerdigen Fahrbahnen.

Wie in Peking, wo bereits eine U-Bahn-Linie existiert und eine zweite gebaut wird, wird zur Entlastung der Straßen derzeit eine U- Bahn-Strecke unter Beteiligung deutscher Firmen in Angriff genommen.

Soweit ist man in Schanghai noch nicht, weil es dort Probleme mit dem Grundwasserspiegel gibt. Chinas wirtschaftliches Zentrum (13 Millionen Einwohner), das allein rund 10 Prozent zum Staatshaushalt der Volksrepublik beisteuert, versucht den Verkehr auf den vorhandenen Straßen so flüssig wie möglich zu halten. Deshalb sind wichtige Straßen in der Innenstadt tagsüber für langsame Gefährte wie Lasträder gesperrt. Das Verbot trifft aber nicht Mopeds. Daher werden diese Vehikel als Rikschas angeboten. Wegen der Gefahren, denen Kunden beim Transport ausgesetzt sind, ist die Beförderung von Fahrgästen auf Moped-Rikschas offiziell verboten. Um diese lästige Formalität zu umschiffen, erkundigen sich die Lenker bei ihren Fahrgästen vor Fahrtbeginn nach Namen und genauer Zieladresse. Werden sie von der Polizei angehalten, können sie erklären: Das ist mein Freund, Herr X, den ich aus Gefälligkeit nach Hause fahre. Gegen diese Gewitztheit kann vermutlich auch die sogenannte Oma-Opa-Polizei nichts ausrichten. Dabei handelt es sich um Damen oder Herren, die bereits in Rente sind, sich aber noch aktiv für das Gemeinwohl betätigen wollen. Mit gelben Westen angetan und durch die Würde ihrer Jahre gewappnet, assistieren sie an Kreuzungen beim Regulieren des Autoflusses und fischen Verkehrssünder aus dem Strom. Die Missetäter dürfen sich dann ihrerseits eine gewisse Zeit als Amateur- Verkehrshüter profilieren – zur eigenen Belehrung und im Dienst gegen den Verkehrsstau.

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