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Prozeßlawine um ein Wort

Was sagte eine grüne Kreisrätin im Neckar-Odenwald-Kreis eines Abends im April 1990 im idyllischen Billigheim? – und zu wem? – und wann?  ■ Aus Billigheim Heide Platen

Gabriele Metzger ist sich sicher, daß sie ihr Leben lang keine Querulantin war. Sie hält sich eher für selbstbewußt, einigermaßen lebenserfahren, kompromißfähig und um Kompetenz bemüht. Sie ist Buchhändlerin, 36 Jahre alt, hat ein Kind. Seit 1984 sitzt sie für die Grünen im Kreistag im Neckar- Odenwald-Kreis. Wie es kam, daß sie seit bald vier Jahren in eine Flut von Straf- und Zivilverfahren verstrickt ist, sich vor einem Schuldenberg und um ihren Ruf fürchtet, ist so leicht nicht nachzuvollziehen.

Der Ort Billigheim hat 1.500 Einwohner und liegt idyllisch zwischen grünen Hügeln südöstlich von Heidelberg. Das kleine Rathaus hat süddeutschen Charme. Rathaussaal und -vorplatz entwickelten sich am Abend des 24. April 1990 zum Tatort, die Chronik einer Prozeßlawine nahm ihren Anfang. Gabriele Metzger besuchte eine brisante Gemeinderatssitzung in ihrem ehemaligen Wohnort. Sie kommt wegen des Babysitters etwas zu spät, parkt in einer Seitenstraße. Die Straße ist leer, der Rathaussaal dicht besetzt. Im Publikum sitzen etliche KritikerInnen der geplanten Umwandlung des Altenpflegeheimes St. Lukas, das nach dem Willen des Betreibers Caritas in ein Heim für psychisch Kranke umgewandelt werden soll. Die Anwohner sind dagegen Sturm gelaufen. Sie fürchten nicht nur den Verlust von Altenpflegeplätzen in ihrer Region, sondern auch, daß der Wert ihrer Häuser durch diese neue Nachbarschaft sinken könnte. 1.700 Unterschriften haben sie dagegen gesammelt. Unter Punkt zwei der Tagesordnung wird die Umwandlung vom Gemeinderat abgelehnt. Die Gegner verlassen den Saal. Gabriele Metzger bleibt bis zum Ende der Sitzung und geht als eine der letzten. Sie unterhält sich, auf dem nach ihrer Aussage leeren Rathausvorplatz, mit einem ihr entfernt bekannten Angestellten aus dem Landratsamt. Die Überlegungen zur Wertminderung von Häusern durch die Nachbarschaft Behinderter nennt sie ihm gegenüber „ein Denken wie im Dritten Reich“.

Was dann geschah, ist kaum zu rekonstruieren und hört sich, in Varianten, recht unterschiedlich an. Die einen meinen, sie hätten den Rathausplatz nach der Sitzung, in Gruppen über das den meisten ebenso wie Gabriele Metzger noch unklare Abstimmungsergebnis diskutierend, bevölkert. Sie hätten die Abgeordnete dort und auch schon vorher im Saal deutlich sagen hören: „Das sind doch Nazis! Das sind doch Nazimethoden!“ Andere berichten, sie habe dies bereits vor der Sitzung gesagt oder aber, hinterher, aus dem Autofenster gerufen. Weitere Zeugen haben etwas anderes oder gar nichts gehört, sich bereits auf den Weg in das Gasthaus „Krone“ bergab begeben. Gabi Metzger selber sagt, sie habe sich im Saal bei ihrer Sitznachbarin nach dem Namen ihres späteren Gesprächspartners vom Landratsamt erkundigt. Der heißt, stellt sich heraus, zweisilbig und lautet phonetisch auf „a“ und „i“, „Jany oder Hany oder so ähnlich“. Der Mann selber bestätigt ihre Angaben im Zeugenstand, während einer der Hauptbelastungszeugen mehrmals aussagt, er habe die Beleidigung zwar nicht gehört, sie ihr aber „von den Lippen abgelesen“. Umsitzende dagegen haben nichts gehört.

Ein Kneipenabend mit Folgen

Der Abend im Gasthaus „Krone“ hatte es jedenfalls in sich. Am Wirtshaustisch schlägt die Empörung über die Kreisrätin Wellen. Jede und jeder fragt jeden, ob, und wenn ja, was sie denn nun gehört hätten. Es entsteht die Idee zu einem Leserbrief in der Lokalzeitung. Das ist ganz praktisch, weil am Nebentisch der für Billigheim zuständige Redakteur Thomas Ballenweg von der Rhein-Neckar- Zeitung sitzt. Dem wird das Schriftstück gleich zugereicht. Er bemängelt, daß die Autoren ihre Namen nicht nennen. Anonyme Leserbriefe nehme er nicht an. Das Schreiben wird daraufhin von drei Gästen unterzeichnet. Am übernächsten Tag erscheint es, von Ballenweg noch etwas zugespitzt, in der Zeitung. Es ergänzt seinen Bericht, in dem steht, daß „eine Grüne Kreisrätin sich braun äußerte“, die damit schon vor der Sitzung für spürbare Eskalation gesorgt habe. Deren Gegendarstellung erscheint, ein weiterer, verschärfter Leserbrief, mit inzwischen vier Unterzeichnern, folgt.

Die Ereignisse eskalieren langsam, aber unaufhaltsam. Gabriele Metzger will die Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen, beantragt beim Landgericht Mosbach zivilrechtlich eine einstweilige Verfügung auf Unterlassung der Behauptungen durch den Redakteur und die Leserbriefschreiber. Gleichzeitig erstattet sie bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen übler Nachrede. Die Heim- Gegner kontern ihrerseits mit den eidesstattlichen Erklärungen zweier Frauen, die, mit neuen Varianten, versichern, daß Gabriele Metzger die im Leserbrief und im Bericht der Lokalzeitung monierten Äußerungen gemacht habe. Die Ermittlungen beginnen: einerseits gegen die Leserbriefschreiber und den Redakteur, andererseits aber gegen Gabriele Metzger selber, zuerst wegen Beleidigung, dann auch wegen der Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen und Falschaussage.

Und dann werden die Vermutungen von Gabriele Metzgers Anwalt Dohmeier abenteuerlich. Er nennt den Rattenschwanz der nachfolgenden Verfahren einen „Kriminalroman“. In akribischem Vergleichen von Aktenzeichen, Schriftbildern und Seitenzahlen kommt er zu der Vermutung, daß seine Mandantin Opfer politischer Intrigen ist. Dies schließt er nicht nur aus kommunalpolitischen Streitereien, sondern auch aus dem eher rätselhaften staatsanwaltlichen Fazit, daß die Äußerungen von Metzger „für weite Kreise der Bevölkerung“ von Bedeutung seien und „Bezug zur tangierten Politik des Landkreises“ hätten.

Ermittlungen ohne Ende

Dohmeier fährt schweres Geschütz auf, als er entdeckt, daß die Staatsanwaltschaft Unterlagen aus dem ersten, von Metzger gewonnenen Zivilgerichtsverfahren zur Untermauerung einer Anklage gegen sie benutzt: „Mit den normalen Aufgaben einer Staatsanwaltschaft hat diese Hilfe für eine Prozeßpartei eines Zivilverfahrens nichts mehr zu tun.“ In der Branche „unüblich“ ist auch der Tonfall, in dem der Rechtsanwalt der Bürgerinitiative, Eckhard Hoffmann, seine stetig anwachsende, sich beleidigt fühlende Mandantenzahl, teils Belastungszeugen und nun auch Nebenkläger gegen Metzger, schurigelt. Er erinnert diejenigen, die einen Rückzieher machen wollen, an „ihre staatsbürgerliche Pflicht“ zur Aussage, da sie „sonst notfalls von anderen Zeugen überführt werden, denen sie unmittelbar nach der Gemeinderatssitzung noch empört berichtet hatten, daß sie die Äußerungen auch gehört haben“. Gabriele Metzger gewinnt das Zivilgerichtsverfahren im Mai 1990. Jetzt erst schiebt die Staatsanwaltschaft Mosbach, so vermutet Anwalt Dohmeier, das „inoffizielle“ Ermittlungsverfahren gegen Metzger mit dem schon vorher gesammelten Material nach, das beim 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts in Karlsruhe landet.

Gegen Metzger soll nun wegen „Beleidigung“ vor dem Schöffengericht verhandelt werden. Das lehnt ab, die Staatsanwaltschaft beschwert sich bei der dafür zuständigen Strafkammer und bekommt recht. Es muß neu verhandelt werden. Vor dem nun zuständigen Amtsgericht sehen sich die Kombattanten wieder. Während dieses Verfahrens, vermutet wiederum Dohmeier, werden die „geheimen“ und die „offiziellen“ Akten „integriert“. Doch der Richter spricht die Angeklagte Metzger nach neun turbulenten Verhandlungstagen frei. Die Urteilsbegründung tadelt vor allem den emsigen Verteidiger, bei dem das Gericht „teilweise den Eindruck akribischer Ignoranz“ hat und „fast wahnhafte Vorstellungen“ gegenüber „behördeninternen Vorgängen“ vermutet. Allerdings habe der Lauf der behördlichen Ermittlungen bei der Angeklagten durchaus den „nachvollziehbaren“ Eindruck einer ungerechten Verfolgung erwecken können.

Richter Zöllner entscheidet, es habe sich bei der ganzen Affaire um einen „Hörfehler“ gehandelt, der wie „Das Gerücht“ von Paul A. Weber „mit rasender Geschwindigkeit eine beachtliche Eigendynamik“ entwickelt habe. Einige Belastungszeugen hätten, davon ist auch diese Kammer überzeugt, nicht die Wahrheit gesagt. Gabriele Metzger wird wiederum freigesprochen.

Die Staatsanwaltschaft Mosbach legt, nun schon kaum noch überraschend, Berufung ein. Vor dem Landgericht ist selbst die Staatsanwaltschaft nicht mehr von allen Punkten der Anklage überzeugt. Auch sie meint, Metzger habe, zumindest vor und nach der Gemeinderatssitzung, niemanden beleidigt. Das Landgericht Karlsruhe verurteilt Gabriele Metzger dennoch zu einer Geldstrafe von 4.800 DM wegen Beleidigung, Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen und Falschaussage.

Ist ein „lockerer Zusammenschluß“ beleidigungsfähig?

Die III. Strafkammer begründete ihren Spruch unter anderem damit, daß nicht nur die Caritas bei der Umwandlung des Heimes ein berechtigtes finanzielles Interesse gehabt habe, sondern auch die Anwohner, „insoweit, als auf die Wertminderung der eigenen Grundstücke abgestellt wurde“. Sie dürften deshalb nicht mit „Nazis“ und deren „Euthanasie“ verglichen werden.

Schon im Sommer 1990 hatte die Polizei rund dreißig Zeugen befragt. Dazu bediente sie sich praktischerweise eines vorgedruckten Fragebogens, den die meisten Adressaten akribisch ausfüllten. Die Antworten entbehren nicht einer unfreiwilligen Komik, denn viele empfinden das, was ihnen lediglich von Dritten, zum Beispiel „von meiner Frau“, zugetragen wurde, „als sehr beleidigend“. Daß die Gruppe der Heimgegner möglicherweise nur ein „lockerer Zusammenschluß“ einzelner ist, und damit juristisch gar nicht in ihrer Gesamtheit „beleidigungsfähig“, wird in keinem der Verfahren berücksichtigt.

Die Prozeßlawine wächst unterdessen weiter, die Wahrheit verschwindet zwischen Bergen von Aktenordnern. Gabriele Metzger ist weniger denn je zum Lachen zumute. Sie ist vorerst verurteilt, die Gerichtskosten haben sich summiert. Für Rechtsanwalt Hans- Joachim Dohmeyer ist der Fall inzwischen zu einem grundsätzlichen Anliegen geworden. Doch nicht nur Dohmeyer machte sich Gedanken über den Rechtsstaat und den unübersehbar heftigen Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft Mosbach gegenüber Gabriele Metzger in einem Verfahren, dessen Einstellung wegen Geringfügigkeit anderswo durchaus zu den alltäglichen Entscheidungen gehört hätte. Auch die Grünen im Stuttgarter Landtag versuchten, dem endlosen Verfahren mit mehreren Anfragen auf die Spur zu kommen.

Indessen räsoniert die Lokalpresse immer wieder über den ungewöhnlichen Aufwand der Justiz. Das wiederum reizte die Mosbacher Staatsanwaltschaft zu einem Leserbrief in eigener Sache. Sie habe, so Behördenleiter Kühn, „aus dringendem Tatverdacht“ heraus gehandelt, die „Wahrheitsfindung“ dürfe nicht aus „Ökonomieerwägungen verkürzt werden“. Das hatte das Landgericht Mosbach, das sie im Sommer 1993 verurteilte, noch im Februar desselben Jahres anders gesehen, als es eine Beschwerde von Metzger ablehnte, weil das ohnehin „bei der Vielzahl der widersprechenden Aussagen und der langen Zeit, die verstrichen ist ... wohl nicht mehr möglich sein dürfte“.

Die Verteidigung von Gabriele Metzger hat inzwischen Revision beantragt.

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