: "Wir leben in einer Art Schizophrenie"
■ Der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasser Abu Zeid hat eine historisch-kritische Hermeneutik des Korans entwickelt. Damit hat er sich den Haß der Islamisten zugezogen, die mit allen Mitteln ...
taz: Was haben Sie, was hat Ihre Frau gefühlt, als Sie erfuhren, daß jemand eine Scheidungsklage gegen Sie beide eingereicht hat?
Nasser Abu Zeid: Es war ein großer Schock und ich fühlte ungeheure Wut. Ich hatte bis dahin immer geglaubt, daß sich Ägypten zu einem zivilen Rechtsstaat entwickelt hätte. Meiner Frau Ibithal ging es nicht anders. Als ich dann die Anklageschrift zu Gesicht bekam, kam Abscheu dazu, allein aufgrund der Tatsache, daß sich ein Gericht überhaupt mit so etwas befaßt. Ich hätte erwartet, daß eine solche Anklageschrift sofort zurückgewiesen wird.
Der Rechtsanwalt Samih Abdel Samed beruft sich in seiner Anklageschrift darauf, daß Nasser Abu Zeid Apostat sei. Hätte er nicht zunächst nachweisen müssen, daß Sie dem Islam abgeschworen haben?
In der ägyptischen Rechtsprechung gibt es keinen Apostasie-Paragraphen. Und genau aus diesem Grund hat Samih Abdel Samed das Scheidungsverfahren gegen mich eingeleitet. In mehr als einem Interview hat er gesagt, daß es ihm nicht um die Ehe von Nasser Abu Zeid geht, sondern daß dies der einzige Weg sei, um mir auf gerichtlichem Wege Apostasie nachzuweisen. Denn wenn das Gericht in die Ehescheidung einwilligt, wäre damit auch mein Glaubensabfall nachgewiesen. Auf der Basis könnte man dann auch meinen Rausschmiß aus der Universität betreiben.
Es gibt noch ein anderes Ziel bei dem ganzen Verfahren: Sie wollen das ganze politische System unter Zugzwang setzen. Mit einem hohen Regierungsvertreter habe ich die Möglichkeit diskutiert, vor den Richter zu treten und das islamische Glaubensbekenntnis zu zitieren: „La Ilaha illa Allah – Es gibt keinen Gott außer dem einen Gott.“ Aber ich werde das auf keinen Fall tun. Die Presse würde am nächsten Tag schreiben, Nasser Abu Zeid hätte bereut und die ganze Angelegenheit wäre vergessen. Und ich hätte meine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt.
Außerdem bin ich nicht bereit, das politische System zu retten. Es muß schon selber unter Beweis stellen, daß es in der Lage ist, dem Menschen Meinungsfreiheit zu garantieren. Ich glaube zudem, daß Konflikte wie der um Nasser Abu Zeid dem Regime sehr zupaß kommen. Sie beschäftigen die Leute und führen dazu, daß die politischen Kräfte sich gegenseitig verschleißen. Und in den ganzen Auseinandersetzungen zwischen Islamisten, die mit dem Schwert des Apostasie-Vorwurfes zu Felde ziehen, den Säkularisten, die angeblich den Islam verfälschen, und Terrorgruppen, die mit dem Leben unschuldiger Menschen spielen, bleibt dann nur noch der Staat als einziger Retter.
Sie sagen, der Staat sei Profiteur in dem Konflikt. Aber der ägyptische Staat steht doch selber zunehmend in der Schußlinie islamischer Extremisten?
Der ägyptische Staat ist nur auf der Oberfläche ein moderner, bürgerlicher Rechtsstaat: die Armee ist modern, die Polizei, die staatserhaltenden Organe und zuweilen die Kultur. Aber in Wirklichkeit leben wir in einer Art Schizophrenie zwischen der Form und dem Inhalt des Staates – und das gilt für die ganze arabische Welt: Wir importieren westliche Technologie und geistig sehen wir im Westen unseren Feind. Die Moderne hat nicht das Bewußtsein erreicht. Der Mechanismus der Macht hat nichts mit dem eines modernen Staates zu tun, denn er basiert nicht auf der Pluralität der geistigen Quellen. Der Staat ist ein autoritärer Staat und jeder autoritäre Staat braucht die Religion in ihrer reaktionären Ausprägung.
Nehmen wir als Beispiel das staatliche Fernsehen: Da gibt es die billigsten westlichen Fernsehserien und Discoprogramme. Das hat nichts mehr mit geistiger Aufklärung zu tun, sondern ist eher Ausdruck des moralischen Verfalls. Und kurze Zeit später werden religiöse Programme ausgestrahlt, bei denen man denkt, unsere Gesellschaft sei im Mittelalter stehengeblieben. Und beide sind Produkte des gleichen staatlichen Informationsapparates.
Diese Schizophrenie ist nicht neu. Sie geht auf das letzte Jahrhundert zurück, seit Mohammed Ali einen modernen ägyptischen Staat zu errichten versuchte. Seitdem wird der Wettstreit zwischen Erneuerern und Modernisten einerseits und rückwärtsgewandten Kräften andererseits ausgetragen. Seit den ausgehenden sechziger Jahren haben die rückwärtsgewandten Kräfte das Übergewicht gewonnen. Sie beherrschen heute selbst die meisten Institutionen des modernen Staates wie Parteien, Berufsverbände und gewinnen immer mehr Einfluß an den Universitäten, in der Polizei und der Armee.
Ich habe einen alten Kampf wiederaufgenommen, den das religiöse Establishment seit der Auseinandersetzung um Taha Hussein, Ali Abdel Razzaq und Mohammed Khalafallah ein für alle Mal gewonnen glaubte. Die Kampagne gegen mich begann schon mit meinem ersten Buch, „Mafhum Al-Nass“ („Die Bedeutung des Textes“). Ich ging sogar noch einen Schritt weiter als die Aufklärer, die zwar das historische islamische Erbe zur Debatte stellten, nicht aber den „Text“, also die göttliche Offenbarung, den Koran. Die Kritik wurde lauter nach meinem zweiten Buch „Naqd Al-Khitab Al-Dini“ („Die Kritik des religiösen Diskurses“), in dem ich nicht nur die fundamentalistische Strömung im Islam, sondern den gesamten islamischen Diskurs kritisierte und nachwies, daß es zwischen Moderaten und Extremisten nur graduelle Unterschiede gibt.
Das ist für die Islamisten und das islamische Establishment sehr viel gefährlicher als die Säkularisten. Die Säkularisten stellen keine Gefahr für die politische Ordnung dar. Im Gegenteil: es gelang dem Regime unter der Parole „Die Hölle des Staates ist besser als das Paradies des Terrorismus“, die meisten dieser Intellektuellen – vor allem aus Kreisen der Linken – für sich zu rekrutieren.
Im vorletzten Sommer wurde der Intellektuelle Farag Foda, einer der schärfsten Kritiker des islamischen Diskurses von Mitgliedern der Untergrundgruppe „Gamaat Islamia“ ermordet. Haben Sie keine Angst, daß Nasser Abu Zeid das gleiche Schicksal ereilen könnte?
Ich bekam einen Brief von einem jungen Mann aus Beirut, einer der Hochburgen der „Gamaat“. Er schrieb mir: „Ich bin Islamist und man sagt von dir, du seist Säkularist. Vier meiner Brüder sind Opfer von Folter. Trotzdem weiß ich, was du sagst, ist richtig, weil du die Armen verteidigst.“ Die jungen Leute in den Gruppen wie den „Gamaat“ und dem „Dschihad“ haben Probleme mit ihrem Leben, sie sind verzweifelt, sie wollen einen gerechten Staat. Wenn ich so alt wie sie wäre, wäre ich vielleicht genauso geworden. Der Diskurs dieser jungen Leute ist nicht religiös. Es ist ein Diskurs des politischen Widerstandes, der sich Kategorien und Ausdrücke aus dem offiziellen religiösen Diskurs entleiht. Ich habe Studenten aus diesen Gruppen unterrichtet, ohne Probleme mit ihnen zu haben.
Ich glaube, die Hintergründe des Foda-Mordes sind komplizierter. Ich bin zwar kein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber ich glaube, es gibt Gründe außerhalb seiner ideologischen Position: Zu wem hatte er Beziehungen, die „Terrorismusbekämpfung“, für die er die Werbetrommel rührte, und das „Antiterrorismusgesetz“, das dann eine Woche später tatsächlich verabschiedet wurde. Es wäre aber gelogen, wenn ich sagen würde, ich hätte keine Angst. Es gibt genügend Verrückte, die auf den Gedanken kommen könnten, etwas gegen mich zu machen.
Für die Muslime gilt der Koran als Gottes ewiges, unerschaffenes Wort. Wenn Sie in Ihren Büchern die Historizität des Koran nachweisen, stellen Sie sich dann nicht doch automatisch außerhalb des islamischen Konsenses?
Ich habe nie bestritten, daß der Koran von Gott offenbart wurde. Das ist seine göttliche Seite. Aber er hat noch eine linguistische Seite: In welcher Sprache wurde dieses göttliche Wort ausgesprochen? Sprache ist nichts Göttliches. Sprache ist ein menschliches Produkt, und jede Sprache trägt in sich die Kultur der jeweiligen Gesellschaft, ihre Begriffe, Konzeptionen und ihre Werte. Gott, gelobt und gepriesen sei er, offenbarte sich auf der Basis der Gesetze der Geschichte. Wäre es anders, würde sich die Geschichte selbst aufheben. Im Koran offenbarte sich Gott auf arabisch. Im Christentum hat er sich selber in der Person Jesus Christus verkörpert. Auch Christus hatte zwei Seiten: die göttliche und die menschliche. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, der durch Maria geboren wurde, der menschliche Beziehungen eingegangen ist und dann gekreuzigt wurde. Strukturell gesehen entspricht also die Person Jesus dem Koran. Beide haben eine menschlich-soziale und eine göttliche Seite. Wenn wir Muslime sagen, Jesus sei Mensch gewesen, müssen wir mit derselben Logik sagen, der Koran sei ein historisches, menschliches Buch gewesen.
Nur wenn wir den Koran in seinen historischen Rahmen zurückführen, vermeiden wir, daß mit ihm spekuliert wird und jede politische Kraft ihn nach ihrem Gutdünken interpretieren kann. Und nur so behält er seine Bedeutung im modernen Zeitalter.
Aber auch in vielen gesellschaftspolitischen Fragen scheint der Koran überholt, wenn wir uns zum Beispiel seine Aussagen über Frauen ansehen?
Wenn ich von Historizität des Koran spreche, meine ich damit auch, daß seine politischen Schlußfolgerungen in ihrer jetzigen Form keine Bedeutung mehr haben und einer Neuinterpretation bedürfen. Beispielsweise erlaubt der Koran: „Heiratet eine oder zwei oder drei oder vier Frauen und was ihr an Sklavinnen besitzt.“ Wer heiratet denn heute noch vier Frauen und geht dann noch hin, um Sklavinnen dazuzukaufen. Das ist doch kein Freibrief des religiösen Diskurses, sondern ein historisches Zeugnis der damaligen Sklavenhalterordnung.
Natürlich gibt es Widerstände dagegen. Man wirft mir zum Beispiel vor, ich sei ein Ungläubiger, weil ich sage, daß Mädchen der gleiche Erbteil wie Jungen zusteht. Als der Koran offenbart wurde, stand die Frau in der arabischen Gesellschaft in nichts besser da als die Sklaven. Der Islam hat ihr die Hälfte von dem zugesprochen, was dem Mann gebührt – unter starker Opposition der muslimischen Gemeinde wohlgemerkt. Man kann daraus schließen, daß der Islam eine fortschrittliche Haltung eingenommen hat. Mit der gleichen Logik kann ich im Namen des Islam heute die volle Gleichberechtigung der Frau fordern.
Ich kann nicht bei der wortwörtlichen Textauslegung stehenbleiben, denn sie widerspiegelt nur einen einzigen historischen Moment. Der Koran zeigt, in welcher Richtung der Text im Verhältnis zur historischen Wirklichkeit interpretiert werden soll. Unzulässig sind genau jene Interpretationen, die sich der historischen Dynamik entgegenstellen. Interview: Ivesa Lübben
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