piwik no script img

Urlaubsziel: Kriegsgebiet

Im ehemaligen Jugoslawien wimmelt es von Tragödien, die nicht gerade Ferienstimmung schaffen. Ausländische Touristen gibt es in Belgrad deshalb schon lange nicht mehr, nur die Landsleute aus Deutschland fahren noch hin  ■ Von Gerd Schumann

„In dem großen und seltsamen Kampfe, der in Bosnien jahrhundertelang zwischen den beiden Religionen und, unter dem Deckmantel der Religion, um das Land, die Macht und die eigene Lebensauffassung geführt wurde, hatten die Gegner einander nicht nur die Frauen, Pferde und Waffen, sondern auch die Lieder abgenommen“ (Ivo Andrić in „Die Brücke über die Drina“).

Erinnerungen an eine Metropole. Belgrad, im dritten Kriegsjahr und seit einem Dreivierteljahr international isoliert: hier, in der Vielvölkerstadt, die früher auch „Cosmopolitskygrad“ genannt wurde, begegneten uns keine ausländischen Touristen mehr. Das „Devize, Devize“-Gezischel der Schwarztauscher unterlegte akustisch ein verwirrendes Straßenbild aus langen Warteschlangen vor Geschäften aller Art, aus Ständen fliegender Händler mit furchterregendem, immer gleichem Tschetnik-Sortiment – Politkitsch, Gemälde der serbischen Königsfamilie, Schlüsselanhänger mit Aufdruck „Gott schützt die Serben“, auch bunte Porträts von Oppositionsführer Drašković und schwarzweiße des unter Tito 1946 hingerichteten Königstreuen Draža Mihailović – und aus hektisch herumirrenden Menschen: ziellos und durcheinander, ohne Sinn und Hoffnung.

Das war im Sommer. Mittlerweile ist die Rasenfläche vor Marijanas Balkon von braunen und gelben Blättern zugedeckt, doch die Urlaubserinnerungen wollen einfach nicht verwelken. Urlaub...? Die zwei Wochen im August, während deren ich sie und ihre Familie begleitet hatte, waren ein Trip der eigenartigen Sorte. Er grub sich ins Gedächtnis wie ein schwer deutbarer Alptraum, der sich allnächtlich wiederholt. Wie Zehntausende ihrer in Deutschland arbeitenden Landsleute, die in diesem Sommer die Überbleibsel Jugoslawiens und dort vor allem ihre Verwandten und Freunde besuchten, sind auch Marijana Stanojevic und ihre Familie längst zurück. Ich sitze ihr gegenüber und frage, wie er war, der Monat, den sie nach meiner Abreise noch am jugoslawischen Donauufer verbracht haben.

Marijana erzählt. Ihr Mann Milan ergänzt. Das Schlimmste sei das Irrationale, weil kaum zu Erklärende und nicht wirklich Faßbare. Es sind die Schicksale von derzeitigen Kriegsgegnern, auf die jeder Reisende stößt. „Früher lebten Serben, Kroaten und Muslime friedlich nebeneinander oder gar zusammen“, erinnert sich Milan, und daß ein Drittel aller Jugendlichen aus Ehen stammten, die heute unter „gemischt“ fallen.

In Selters, einem Kurort 60 Kilometer südlich von Belgrad, habe er Soldaten getroffen, die dort behandelt wurden. Milan Jeftic, an Krücken, das linke Bein um 13 Zentimeter verkürzt; Boban Vuković, dem Granatsplitter vor Sarajevo Teile seiner unteren Gesichtshälfte wegrissen. Seitdem kann er weder lachen noch weinen. Zwei Krüppel, eine Frage: Warum nur sind sie an die Front gegangen und zu Killern geworden? Boban sagt, im kroatischen Dubrovnik seien Serben von einem Tag auf den anderen zu Menschen zweiter Klasse erklärt worden, rechtlos, unterdrückt, und da habe er sich freiwillig gemeldet. Erst Opfer, dann Täter, jetzt wieder Opfer – und bald Veteran, von dem schon jetzt kaum noch jemand etwas wissen will und in Zukunft noch weniger. Gute Wohnungen gibt es doch nur für Schmuggler, Schieber, Dealer und hohe Offiziere, klagen die jungen, nicht einmal 30jährigen Veteranen und alpträumen vom Clochard-Leben unter Save-, Donau- oder Drinabrücken. Nichts wird mehr sein wie früher, und Marijanas Standardfrage lautet seitdem: „Wie konnte das nur geschehen?“

Schon die zweitägige Reise im Auto zerrte an den Nerven. 1.600 Kilometer, unendlich lange Staus an verschiedenen Grenzen, quengelnde Kinder auf dem Rücksitz, eine brennende Sonne auf heißem Blechdach und drückende Schwüle in Wien und Budapest und in den trockenen Weiten der Pußta. Nur noch wenige Wege führen in Richtung Belgrad. Der traditionelle Autoput ist unterbrochen, der Flugverkehr eingestellt, bleibt die Route über Ungarns M 5, an der das Geschäft mit Waren aller Art blüht. Arbeitskleidung von unmißverständlich winkenden Frauen längs der Landstraße: Netzstrümpfe und Strapse, hohe Hacken, knallenge Pullover, tief ausgeschnitten.

Dann endlich die letzte Grenze. Marijana: „Da steigt auch noch unser Vordermann aus seinem weißen Jugo 45, schließt ab und verschwindet irgendwo hinter einem einsam in der Landschaft stehenden Busch.“ Hilflose Aggressionen entluden sich. Hupen zwecklos, und wider Erwarten wurde der Weg zum Schlagbaum eins, dem ungarischen, doch noch frei. Kofferraum auf. Zöllner: Sie fahren in ein Blockadeland, meine Dame. Die andere Seite, die statt „Sozialistische Förderative Republik“ mittlerweile „Bundesrepublik Jugoslawien“ heißt, aber trotzdem über keinerlei internationale Reputation verfügt – selbst die Flagge wirkt ohne roten Stern mittendrin seltsam verfremdet –, bittet kräftig zur Kasse. Straßengebühr, Versicherung: 145 Mark cash. Der Dinar megainflationiert zur lächerlichen Monopoly-Währung, und auf den guten Namen, mit dem Kreditkartenbesitzer sonst angeblich zahlen, gibt hier niemand etwas: An dieser Grenze stoppt selbst der internationale Bankverkehr.

39 Jahre alt ist Marijana. Mit 17 verließ sie ihren Geburtsort, das kroatische Bukovica, zog zum Geldverdienen nach Norden in die kalte und reiche Bundesrepublik, wo Arbeitskräfte noch willkommen geheißen wurden, und landete in der Gastronomie, aus der sie später von ihrem Mann Milan, damals Jugoslawe, heute bosnischer Serbe, befreit wurde, um danach etliche Jahre bei Krupp am Fließband zu stehen – bis zur ersten Schwangerschaft. Nicht mal im Traum hätte sie daran gedacht, daß ihre Beziehung einst in die Kategorie „ethnisch unsauber“ fallen würde. Heute darf ihr Mann nicht nach Kroatien reisen, und die beiden Mädchen können ihre schwerkranken kroatischen Großeltern nicht besuchen.

Nach 150 Kilometern durch die Kornkammer Vojvodina, in der Pferdefuhrwerke nicht nur „Ernte“ signalisierten, sondern auch handfest demonstrierten, wie knapp Diesel geworden ist, landeten sie schließlich in Banovci an der Donau, wo einige Verwandte wohnen und die Familie Mitbesitzerin eines Hauses ist – ursprünglich wohl mit Blick auf eine eventuelle Rückkehr in ferneren Zeiten, die sich in den vergangenen Jahren allerdings in Lichtgeschwindigkeit entfernt hatten. Ankunft. Nein, Marijana fürchtete keine Schwierigkeiten wegen ihrer kroatischen Herkunft – und ihre diesbezügliche Sorglosigkeit bestätigte sich in den folgenden Wochen tatsächlich. Immerhin etwas in diesen fürchterlichen Zeiten des fanatischen Nationalismus. Aber sonst?

Für Überschall-Kampfflugzeuge gab es noch Treibstoff zur Genüge, wie der rege Verkehr über dem Haus in Banovcis Ivo- Andrić-Straße eindringlich mit beachtlichen Dezibelwerten auf der nach oben offenen Lärmskala unter Beweis stellte. Ohropax fehlte, und die Familie mußte notgedrungen auf die Kraft der Gewöhnung auch bezüglich des gesamten Alptraum-Alltags unter Embargobedingungen setzen. Eingekauft im Tante-Emma-Laden um die Ecke. Speiseöl, Milch und Käse gab es nicht. „Für den Preis, den du gestern gezahlt hast, bekommst du am nächsten Tag nichts mehr, auch wenn du einen Koffer voll Geld hast.“

Der öffentliche Nahverkehr wurde um ein Drittel reduziert. An den Haltestellen der verbliebenen 400 Busse und Straßenbahnen kämpfen die Wartenden um Einlaß, bis die Hydrauliktüren schließen, Sohn drin - Mutter draußen, ein alltägliches Bild. Wer ein Belgrader Taxi besteigt, kann hinter der regulären Taxameteranzeige eine lange Reihe aufgemalter Nullen bewundern. Mancher Taxifahrer erhöht während der Fahrt den Preis um eine weitere Null und setzt anschließend seine Gäste am „Hotel Excelsior“ ab. Dort rollt für devisenbestückte Nachtschwärmer die Roulettekugel, während sich in der benachbarten Rotlichtzone Frauen für ein paar Mark verkaufen. Wie Anja, Psychologiestudentin aus Moskau, und ihre beiden Freundinnen, eine Kosakin, eine Ukrainerin – einfach abgehauen aus den rasant verelendenden Weiten des Ostens in eine andere Region mit ungewisser Zukunft. Egal. Das Leben kennt im Gegensatz zur Grammatik einen Komparativ von „Not“, und nach dem Ende der zweiten Welt erweitert sich die dritte um neue, industriell entwickelte Länder, die auf dem freien Markt Konkurs anmelden mußten.

Sightseeing. Als Rathaus dient seit langem die „Alte Residenz“ der serbischen Herrscherhäuser Obrenović und Karadjordjević. 1884 wurde dieser schönste Bau auf dem Balkan des 19. Jahrhunderts fertig, damals, als die Osmanen geschlagen waren und der Gedanke eines einheitlichen südslawischen Zusammenschlusses reifte. Noch grenzte Belgrad als Serbiens Hauptstadt im Norden direkt an Österreich-Ungarn. Den südlich gelegenen Nachbarn Bosnien-Herzegowina hatten sich die Habsburger schon sechs Jahre vorher auf dem Berliner Kongreß einverleibt, und dasselbe taten sie auch mit der „weißen Stadt“ – 1914, kurz nach den Schüssen von Sarajevo. Als dann nach vier Schreckensjahren der erste große Krieg endete, stand Serbien auf seiten der Sieger. Jugoslawien wurde zum ersten Mal gegründet, und 1920 fanden in der „Alten Residenz“ serbisch-kroatisch-slowenische Volksversammlungen statt.

Neben dem Rathaus steht der marmorne Ivo Andrić, der auch als Denkmal traurig und introvertiert wirkt. Der Literatur-Nobelpreisträger von 1961 wohnte gleich um die Ecke. Während der deutsch- kroatischen Unterdrückung von 1941 bis 1944 lebte er zurückgezogen bei Freunden, lehnte jede Form der Kollaboration mit den Besatzern ab, sagte strikt nein zur Zahlung der ihm als ehemaligem Botschafter zustehenden Pension, zur Unterzeichnung von Aufrufen gegen die Volksbefreiungsbewegung und zur Veröffentlichung seiner Literatur. Er mußte damit rechnen, daß angesichts der ihn umgebenden Zerstörung und des Terrors nie etwas von dem, was er in diesen Jahren schrieb, veröffentlicht werden würde. Und das war nicht wenig.

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Die Romane „Das Fräulein“ und „Wesire und Konsuln“ entstanden, und im März 1945 erschien schließlich „Die Brücke über die Drina“ in einer ersten 5.000er- Auflage – ein episches Meisterwerk, das Bosniens Geschichte in Geschichten erzählt: Aus der Zeit der Osmanen, in der sich das Land als vorgeschobene europäische Provinz ihres Reiches inmitten der Konkurrenz rivalisierender Welten und Zivilisationen befand. Die Prozesse, die sich hier abspielten, formten die Physiognomie Bosniens als eines Vielvölkergebildes mit mehreren Religionen und unterschiedlichen Kulturen, deren zeitgleiche Präsenz am selben Ort ihrerseits im Laufe der Zeit neue eigenständige Kulturen und Lebensformen hervorbrachte. „Groß und seltsam“ seien die häufig „unter dem Deckmantel der Religion“ geführten Kämpfe um die Macht gewesen, und daß sich die Kriegsparteien alles, restlos alles abgenommen hätten, schrieb Andrić, und indem er zurückblickte, weissagte er.

Das Komplizierteste an Belgrad ist die Geschichte aus Zerstörungen und Wiederaufbau, Plünderung, Leid und häufig wechselnden fremden Herren. Knotenpunkt zwischen West und Ost, Orient und Okzident und auch zwischen Nord und Süd in der neueren Geschichte ab Tito bis Ende Jugoslawien II.

Vertriebene, also Flüchtlinge, gab es hier häufig, und Marijanas Nachbarn in Banovci war die Familie Radojević, ein Ehepaar mit zwei Töchtern – privat untergebracht wie über 95 Prozent der offiziell Registrierten, die seit Kriegsbeginn in Kroatien und Bosnien nach Serbien und Montenegro kamen. Vor drei Monaten waren sie aus den umkämpften Gebieten in der Krajina geflohen, wo sie Haus und Hof verloren hatten.

Bloß weg! Wer Geld und Visum und Beziehungen hat, verläßt das Land ganz. „Abwanderung der Hirne in die Welt“ hatte das der im Mai unter merkwürdigen Umständen abgesetzte hochangesehene Schriftsteller und damalige Präsident Ćosić genannt. Parallel zur Verarmung breiter Teile der Bevölkerung sowie zur steigenden Sterberate veröde das geistige Leben. Die Isolation des Landes, so Ćosić, habe „zur Depression bei den demokratischen Kräften geführt und nationalen und sozialen Extremismus, Enttäuschung, Wut, die Verzweiflung eines ganzen Volkes gefördert“.

„5.000 DEM“ – Deutschmark, die heimliche Hauptwährung Jugoslawiens – steht auf den Schildern an Milan Visnjićs Spielautomaten. Das ist der Hauptgewinn, den noch nie jemand gewonnen hat. Der Traum vom großen Geld bleibt Illusion. Im Zentrum Belgrads versuchen verzweifelte Kunden vor der letzten noch existierenden Privatbank, eine der begehrten Nummern zu ergattern, die dazu berechtigt, vom Konto bis zu 500 Mark abzuheben. Mehr gibt es nicht am „Boulevard der serbischen Herrscher“, der noch vor wenigen Monaten „Marsala Tita“ hieß. Marschall Tito.

Einige hundert Meter entfernt, in „Stari Grad“, der Belgrader Altstadt, arbeitet Jovan Krajnović, der sich Milan als „Musikprofessor“ vorstellt. Wo sich im alten Jugoslawien während der Saison täglich 10.000 oder mehr Touristen durch die engen Gassen drängten, ist es trostlos und nahezu leer. Wenige Devisenbesitzer speisen fürstlich und für wenig Geld. Zehn Mark zu viert für das Feinste vom Feinen inklusive Slibowitz, Weißwein und des türkischen Mokkas zum Abschluß. Und Professor Jovan, der 70jährige grauhaarige Mann, singt dazu. Welch billiger Urlaub, sagen sich Gedankenlose.

Jovans Rente reicht nicht. Zehn Mark im Monat, und täglich gebe es weniger zu kaufen. Doch die Serben hätten schließlich 500 Jahre unter osmanischer und austro-ungarischer Herrschaft überlebt, da würden sie die jetzigen Probleme auch bewältigen, meint Jovan, sagt laut „Dschiwilli“ – Prost! –, hebt sein weingefülltes Wasserglas und nimmt einen mächtigen Zug. Nein, die schaurigen Gesänge, die lang und blutreich von der serbischen Niederlage gegen die Türken auf dem Amselfeld 1389 erzählen, trägt er nicht vor. Er unternimmt stattdessen einen folkloristischen Ausflug durch die jugoslawische Musikgeschichte. Muslimische Lieder von Liebe und Eifersucht, eine wunderschöne kroatische Weise, serbische Hochzeitsmusik – Jovan kümmert sich nicht um das ethnische Tohuwabohu, und niemand in Stari Grad nimmt Anstoß daran.

„Seltsam eigentlich“, wundert sich Milan heute, und grinst, als ihm Jovans zylinderhoher Strohhut einfällt – Markenzeichen des Restaurants „Moj Sesir“ in der berühmten, kopfsteingepflasterten „Skadarska“. Seine breiten Schuhe waren durchgelatscht, die weite unförmige Hose wurde von einem dünnen Plastikgürtel gehalten, darüber wölbte sich ein Bäuchlein, das den knorrigen Rentner endgültig zur traurigen Gestalt gemacht hatte.

Milan sagt nachdenklich, daß schließlich niemand mehr auf den Musikprofessor und seine schrägen, melancholischen Gesänge achtete. Die Passanten hatten es eilig. Eine sinnlose Geschäftigkeit hatte die Zwei-Millionen-Metropole des zerfallenden Landes erfaßt. Menschen rannten herum, apathisch, schwerfällig, mit gesenkten Köpfen und – wie verloren.

Ich frage Marijana, ob sie sich an ein schönes Urlaubserlebnis erinnert. Sie schweigt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen