Der Würger von Mitchells Plain

In einem Township von Kapstadt grassiert die Furcht vor einem Serienmörder – und gibt dem anlaufenden Wahlkampf hysterische Züge  ■ Aus Mitchells Plain Willi Germund

Cassius lümmelt gelangweilt auf dem Sofa herum. Im Fernseher läuft ein Zeichentrickfilm. Aber der elfjährige Junge schaut nicht einmal mehr hin. Seine schmale Großmutter, das angegraute und widerspenstige Haar streng zurückgekämmt, bügelt Wäsche. „Ich wohne nicht hier“, erzählt die Frau, „ich bin nur zum Aufpassen da.“ Der Wohnzimmerboden des kleinen Hauses ist mit Spielzeug übersät, auf einem Regal neben der Haustür liegt schwarz und bedrohlich eine täuschend echte Revolverattrappe – Plastikschutz gegen Kriminelle.

Die Straßen von Mitchells Plain bei Kapstadt sind fast menschenleer. An den Schulen ist der Unterricht längst beendet, aber die Kinder dürfen nicht mehr draußen spielen. Trotz des heißen Sommerwetters müssen sie im Wohnzimmer bleiben. Gruppen von vier bis fünf Kindern in langen, schneeweißen Kaftanen streben in der gleißenden Sonne eilig nach Hause. Es ist Ramadan, die Muslime in dem Township für „Coloureds“ (Mischlinge) fasten. Südafrikas Apartheid-Strategen luden in Mitchells Plain, einige Dutzend Kilometer vom Zentrum der Metropole entfernt, einst die „Coloureds“ ab, die in Kapstadt selbst nicht mehr gern gesehen waren.

Als Maureen Arendse am frühen Nachmittag nach Hause kommt, quengelt ihr Sohn Cassius nicht einmal. Auch ihm sitzt die Angst im Nacken. 200.000 Menschen leben in dem Township – und nur einer von ihnen zittert nicht: der „Station Strangler“, der Bahnhofswürger, ein Serienmörder. In der letzten Januarwoche wurden elf seiner Opfer in einem Gebüsch am Rand der Siedlung mit Tausenden von kleinen Häusern aus Fertigbeton und Eternitdächern gefunden. Sechs Jungen fanden Feuerwehrleute säuberlich aufgereiht: die Hände auf dem Rücken gefesselt, mit Draht erdrosselt, vergewaltigt, die Köpfe im Sandboden verbuddelt. Auf einem Zettel in der Hosentasche eines Opfers kündigte der „Würger“ an: „Many more in stock“ – es werden noch viel mehr kommen.

21 Jungen im Alter von acht bis 14 Jahren ermordete der Station Strangler seit 1986. Ein Serienmörder, wie ihn Südafrika bisher nicht kannte. Am 3. Oktober 1986 starb der 14jährige Jonathan Claasen, in den elf Monaten danach folgten fünf weitere Morde. Eine Sonderkommission wurde eingesetzt: drei Beamte, verstärkt von neun Eisenbahnpolizisten –, weil die Opfer in der Nähe von Bahnhöfen für Nahverkehrszüge entdeckt wurden, die Kapstadt mit den Ghettos der Umgebung verbinden. Die Arbeit blieb ergebnislos. Aus Kreisen der Anti-Apartheid-Bewegung kamen Vorwürfe: Wären die Opfer weiß gewesen, so der lauthals verkündete Verdacht, der Täter wäre längst dingfest gemacht worden. Die Polizei stritt dies beleidigt ab. Aber als im Oktober 1992 – nach dreijähriger „Pause“ – der zehnjährige Jakobus dem Bahnhofswürger zum Opfer fiel, umfaßte auch die neue Sonderkommission ganze drei Polizeibeamte.

Nach den grauenhaften Funden im Januar reicht es den Bewohnern von Mitchells Plain. Zu Hunderten durchkämmen sie die Umgebung des letzten Tatorts auf eigene Faust. Vigilantes schieben Wachdienst rund um die Uhr. „Was können wir gegen den Würger unternehmen?“ fragt ein schwarzweißes Plakat, das zu einer Bürgerversammlung einlädt.

Kinder dürfen nicht mehr auf der Straße spielen. Eltern unterbrechen die Arbeit, um ihre Sprößlinge vom Unterricht abzuholen. Ein Vater, der vor einer Schule seinen Sohn sucht, muß um sein Leben rennen: Kinder hielten ihn für den Mörder. Ein Verdächtiger, der von der Polizei vernommen wird, befindet sich seitdem in psychiatrischer Behandlung. Vor der Wache von Steenberg kommt es zu Streit mit der Polizei. Der Volkszorn ruft nach Lynchjustiz und beruhigt sich erst, nachdem eine Delegation die Wachstuben besichtigt und sich überzeugt hat, daß die Polizei den Station Strangler entgegen allen Gerüchten nicht in Gewahrsam hat.

Kapstadt und Südafrikas Psychiater und Psychologen wühlen in ihren Archive. Haben sie einen Fall falsch eingeschätzt, einen Verdächtigen übersehen? Die Polizei vergleicht Urteile von einschlägig Vorbestraften mit der Zeittafel der Morde. 25 Verdächtige werden vernommen, bei fünf Personen nimmt die Polizei Blutproben ab. Lieutenant Johan Kotze, der Leiter der neuesten Sonderkommission: „Im Gegensatz zu früher fanden wir zuletzt Spermaspuren und können deshalb auf Blutgruppe und andere Details schließen.“

Aber diese Spuren halfen bisher ebensowenig wie das Profil des Täters, das mit Hilfe von Interpol angefertig wurde. Gesucht wird ein Mann Ende 20 bis Mitte 30. Es handelt sich, so glaubt die Polizei, um einen Coloured, weil er bisher keine weißen Kinder als Opfer aussuchte. Der Bahnhofswürger sei hochintelligent, hochqualifiziert. Ein Psychopath, der seine Taten sehr genau plane. Und er müsse sich gut auskennen, sagt Lieutenant Kotze. Denn in dem übermannshohen Gebüsch zwischen Indischem Ozean und den Häusern von Mitchells Plain könne man sich leicht verirren.

„Der Mörder kann jeder von uns sein“, sagt der 47jährige Lionel, der im Nachbarhaus von Maureen Arendse den Nachmittag verbringt. Vor einer Woche hat er seinen Schuhmacherjob in einer Fabrik verloren. Die Hälfte bis dreiviertel aller Männer, so Schätzungen, in Mitchells Plain sind arbeitslos. Die Folgen: Bandenkriminalität, Drogenmißbrauch, Gewalt. „Aufhängen ist zu schade für den Mann“, sagt Lionel, „das geht zu schnell.“

„Wir stehen kurz vor der Festnahme“, glaubt Lieutenant Johan Kotze. Der Experte für komplizierte Mordfälle leitet die neueste Sonderkommission. Drei Wohnwagen auf dem Gelände der Polizeiwache dienen als Hauptquartier. Zwei Moto-Cross-Motorräder stehen bereit, um Verdächtige auch auf unwegsamem Gelände verfolgen zu können.

Verlegen lacht Johan Kotze auf die Frage nach dem politischen Druck, unter dem die Nachforschungen ablaufen: „Es ist gut, wenn es viel Unterstützung aus der Öffentlichkeit gibt. Das bedeutet viele Informationen. Aber es kann die Arbeit auch ziemlich behindern.“ Lynchjustiz, da sind sich alle Verantwortlichen sicher, bleibt eine große Gefahr in Mitchells Plain. „Aber wir sind nahe dran“, betont Kotze noch einmal, „er hat noch nicht wieder gemordet, das ist ein Zeichen, daß er sich unsicher fühlt.“ Zu dem psychologischen Spiel zählt auch eine öffentliche Herausforderung an den Täter: Er solle der Polizei etwas mitteilen, das nur er und die ermittelnden Beamten wissen könnten.

Die neueste Sonderkommission ist nun plötzlich 80 Beamte stark. Kotze wurde eigens nach Mitchells Plain versetzt, um die Nachforschungen zu leiten. Die Zeiten haben sich geändert: In Südafrika tobt der Wahlkampf für die ersten demokratischen und allgemeinen Wahlen. In Mitchells Plain wurde Anfang der 80er Jahre die „United Democratic Front“ (UDF) gegründet, die bis 1990 dem Apartheid-Regime mit Demonstrationen, Streiks und anderen Protestaktionen das Leben schwermachte. Einer der Mitgründer war Alan Boesak, ein Coloured und heute regionaler Spitzenkandidat des ANC. Sein Gegenspieler von der regierenden Nationalen Partei ist ausgerechnet der Hardliner Hernus Kriel, seines Zeichens Polizeiminister.

Die Westkap-Region, zu der Kapstadt gehört, ist die einzige der neun neuen Regionen Südafrikas, in der sich die Nationale Partei von Kriel und Staatspräsident Frederik de Klerk Hoffnungen auf einen Sieg macht. Voraussetzung dafür ist aber, daß die hier zahlreich vertretenen Coloureds für die alte Apartheid-Partei stimmen. Marike de Klerk, Ehefrau des Staatspräsidenten, mag Anfang der 80er Jahre noch erklärt haben, die „Mischlinge“ seien „von Gott vergessen“ worden. Viele der zwei Millionen wahlberechtigten Coloureds haben solche diskriminierenden Sprüche angesichts ihrer Zukunftsängste vergessen.

„Gucken Sie sich Tafelsig an“, sagt Maureen Arendse, selbst eine überzeugte ANC-Anhängerin. In dem armseligen Stadtteil von Mitchells Plain waren auf Sanddünen winzige, etwa sechs mal sechs Meter große Häuser errichtet worden. In Tafelsig warteten manche Coloureds seit Jahren auf diese Behausungen. Aber die Bauarbeiter waren schwarze Tagelöhner aus dem benachbarten Slumviertel Kayelitsha. „Für die ist während der letzten Jahre nichts gebaut worden. Als die Häuser fertig waren, haben die Arbeiter oder Freunde von denen die Häuser kurzerhand besetzt“, erzählt Maureen Arendse. Inzwischen sind die Behausungen wieder geräumt, Mitarbeiter eines Wachdienstes bewachen sie. Aber bei den „Coloureds“ hat die Episode bestehende Vorbehalte bestärkt, nach den Wahlen von der schwarzen Bevölkerungsmehrheit beiseite gedrückt zu werden. „Wir werden euch nicht die Häuser wegnehmen“, verkündete ANC-Spitzenkandidat Nelson Mandela Mitte Februar bei einem Wahlkampfauftritt. Am gleichen Tag hatte er einen Gottesdienst der „Neuen Apostolischen Gemeinde“, einer konservativen Kongregation mit Hauptsitz in Zürich, besucht. Mandela, sonst mit Versprechungen eher zurückhaltend: „Wir werden uns für alle einsetzen, die in der Vergangenheit unter der Diskriminierung durch die Apartheid gelitten haben.“

Ob solche Zusagen das Mißtrauen beseitigen können und die Furcht der „Coloureds“ mindern, auch im „neuen Südafrika“ wieder zwischen allen Stühlen zu landen, ist ungewiß. Aber wenn die Polizei den Station Strangler vor den Wahlen fängt, ist eines gewiß: Hernus Kriel dürfte unangefochtener Wahlsieger in Mitchells Plain werden. Denn er hätte dann schon vorher das Leben in der Siedlung grundlegend verändert.

„Diese permanente Furcht, diese Angst, das ist so furchtbar“, klagt Maureen Arendse. Am Vortag hatte Sohn Cassius sich nach der Schule um eine Stunde verspätet. Er mußte in der Klasse Lehrstoff nachholen, und niemand hatte den Eltern Bescheid gesagt. „Als er endlich nach Hause gekommen ist, war ich den Tränen nahe“, erzählt die Mutter.

Catherine Samai, Mutter von sechs Kindern, will den Besucher gar nicht mehr gehen lassen. Sie erzählt und erzählt, sucht neue Fotos heraus und erzählt – als ob sie fürchtet, mit den Erinnerungen an ihren 13jährigen Sohn Neville allein gelassen zu werden. Der Junge verschwand am 7. Januar und wurden Ende des Monats gefunden – vom Bahnhofswürger ermordet. „Jede Nacht“, so sagt die Mutter, „habe ich nach ihm gesucht.“ Jetzt erhielt sie einen Brief. Sie brauche sich nicht mehr um ihre anderen Kinder zu sorgen, so heißt es in dem Schreiben, und der Schreiber fügte hinzu: Ich schlafe jede Nacht in Ihrem Garten.

Unterzeichnet war der Brief mit „Station Strangler“.