Die Karriere des Erlebnisses

Die Ekstase in geschönten Welten schreit die zivilisatorische Wehklage mit emotionalem Getöse nieder  ■ Von Jürgen Hasse

Februar 1994: Spezialeinheiten der Feuerwehr suchen an den deutschen Nordseestränden fieberhaft nach angespülten Beuteln mit hochgiftigen Schädlingsbekämpfungsmitteln. Sie waren bei der Havarie eines Frachters in die See gekippt. Den meisten modernen Küstenbadeorten können derartige Pannen heute nicht mehr viel anhaben. Spätestens im Sommer 1988 lernte man im professionellen Küstentourismus an den Folgen von Algenpest und Robbensterben eine neue Managementstrategie. Man hatte begriffen, daß man auf die Gründe der ökologischen Bedrohungen des Sommertourismus an Nord- und Ostsee nicht einwirken konnte. Unternehmerischer Handlungsspielraum wurde dagegen am Ende der fatalen Wirkungskette entdeckt: Wenn also schon nicht die natürlichen Voraussetzungen der Erholung gegen die ökologische Krise abgesichert werden konnten, so doch die ökonomischen Voraussetzungen des Tourismus, und zwar mit den Mitteln der modernen Technologien. Losungswort des Erfolges sollte das „Erlebnis“ werden; in Spaßbädern kam es schließlich zur vollen Blüte.

Subtropisch dekorierte und klimatisierte Badelandschaften unter Glas offerieren das entgrenzte Bade-Erlebnis – eine Eutrophie der Wünsche. Die ökologisch angeschlagene Natur jenseits der ausgrenzenden Gläser ist auf Distanz gebracht, zu einem Naturzitat auf den Status einer Kulisse degradiert. Die technisch erstellte Ferien-Erlebnis-Natur sichert zudem, gewissermaßen prophylaktisch, eine Voraussetzung für die (touristische!) Beherrschung des Ozonloches: Das Kunstglas, das sich über das subtropische Szenario wölbt, fungiert als besserer Himmel, der die für den Menschen schädliche UV-Strahlung absorbiert. Der umweltpolitische Zynismus von „Tropenpark“-Inszenierungen im rüden Nordseeklima liegt auf der Hand: Wenn schon die geschundene „erste“ Natur noch nicht einmal mehr zur Erholung taugt, dann rettet ihre Kopie wenigstens das Bild einer versöhnlichen Natur. Technisch reproduzierte Natur ist ökologisch krisenresistent und ökonomisch nach aktuellen Marktlagen gestaltbar. Der Erlebnisschwindel aufgeschönter „besserer“ Welten erfüllt schließlich eine sozialpsychologisch-ideologische Aufgabe. Das Erlebnisspektakel tüncht über die Mängel und Risse der alltäglichen Lebenspraxis hinweg. Deren Gründe liegen aber nicht in dem individuellen Unvermögen, „richtig“ zu leben, sondern in den allgemeinen Strukturen der Vergesellschaftung der Menschen. Die seelischen Verwundungen durch Überfluß an Dingen und Verlust an Sinn sind mit schwachen Mitteln schon lange nicht mehr zu lindern. Die Ekstase der Erlebnisse leistet dagegen einen hinreichenden Gegendruck. Gleich einem emotionalen Getöse schreit sie die eher erschöpfte zivilisatorische Wehklage nieder.

Das Erlebnis als lustvolle Kompensation

Die Karriere des Erlebnisses findet seit einigen Jahren in der Inszenierung von Erlebnisräumen ihren Ausdruck. In einem gleißenden Schein des Schönen werden im öffentlichen Raum ornamentreiche Bühnen des Sozialen errichtet. Bühnen, die selber Teil eines flüchtigen Spieles sind – eines Spieles, das nicht mehr zur Erreichung eines Zieles gespielt wird, sondern allein sich selber dient. Das Erlebnis des Ego ist es, dem das Aufgebot aller Lust gilt; es ist Mittel und Zweck in einem.

Die Bühnen der Introvertierung präsentieren sich als Spaßbäder, postmoderne Konsumkathedralen und zu Tode ästhetisierte Innenstädte. Zwar könnte man diese Räume – im Gegenzug zum Erlebnis – auch erleben und erfahren; aber dabei fiele dem Bewußtsein etwas anderes zu als in der Euphorie der Erlebnisse. Im Erleben wird eine Situation des Lebens mit den Sinnen wahrgenommen, emotional verarbeitet und schließlich als bewußte Reflexion der Erfahrung zugänglich gemacht. Erleben vollzieht sich aus einem Fluß des Lebens heraus, aus Kontinuität und Wandel. Dem Erleben fällt damit eine erkenntnisvermittelnde Funktion zu, die die Wege zur Kritik des Selbst wie seiner Verhältnisse öffnet. Das Erlebnis dagegen sucht keine Erfahrung! Es will das Punktuelle, das Highlight als isolierte emotionale Intensität für die Erinnerung festhalten, um in einem Spiel lustvoller Kompensation das zivilisatorische Leiden an den sozialen Folgen der Modernisierung zu lindern. Diese Rolle spielt das Erlebnis aber nicht erst jetzt, sondern schon seit seinem Aufkommen in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Erlebnisse sind in ihrer geistigen Verfassung „emotionale Intensitäten“. Die Fatalität ihrer Oberflächlichkeit liegt im Verlust der Orientierung in den individuellen Sinnstrukturen. Der postmoderne Topos „Der Weg ist das Ziel“ zeugt von dieser Auflösung des Unterscheidungsvermögens zwischen Mittel und Zweck.

Der größte ökonomische Vorteil des „Erlebnis-Produktes“ liegt im Vergleich zu materiellen Waren in seiner inneren Struktur: Erlebnisse beanspruchen auf der Seite des Konsumenten zum Beispiel keinen Platz; außerdem gibt es keine mentalen Grenzen, die mit der Endlichkeit der Ausstattung einer Wohnung mit materiellen Gütern vergleichbar wäre.

Da das Erlebnis kryptosprachlich (dem Bewußtsein gegenüber also verborgen) gegen die eigene Fremdheit im Leben rebelliert, sich aber nicht im Metier des Realitäts-, sondern des Lustprinzips bewegt, bleibt das Individuum sich selbst gegenüber unbekannt. Es wird zum „anderen selbst“ (Baudrillard). Der individuelle Kompensationsbedarf schreibt sich zu einer unendlichen Geschichte fort, denn die zivilisatorischen Verwundungen (Anonymisierung, Individuation, Abstraktion von den eigenen Wünschen, Vereinsamung, Sinnleere etc.) sind nicht mit der Lust am Erlebnis zu beheben. Sie liegen – auch in der Postmoderne – dort, wo die Kritische Theorie der Frankfurter Schule sie schon vor 25 Jahren verortet hatte: in den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch die Technologien der Macht stets auf den Stand ihrer größten Effektivität getrimmt werden – wenngleich dieser kritisch- dialektische Theoriebestand auch heute gern vergessen wird.

Erlebnisräume als Schimären

Die aufgeschönten Erlebnisräume sind doppelt codiert: Sie machen dem Individuum den gefühlten Mangel an der eigenen Ortlosigkeit im Leben erträglich, zugleich flexibilisieren sie die soziale Manövrierfähigkeit der Individuen für ein fröhliches Springen zwischen flottierenden Einsatzorten der gesellschaftlichen Systeme. Das beglückte Individuum gipfelt als ein sich selbst enteignetes Objekt in mentalen Containern ökonomischer und politischer Systeme.

Erlebnisräume präsentieren sich als Schimären. In ostentativen Gesten des symbolischen Geschenks scheinen sie die Brutalität des Marktes hinter sich gelassen zu haben. Im Bild liegt aber auch die rückseitige Gestalt einer humanisierten Ökonomie. Die Lust und das Vergnügen am Genuß von Erlebnisräumen stellen sich nun als Medien zur Radikalisierung der Kommunikationsformen des Marktes dar. Die verwendete Methode ist die der „radikalen Verführung“ (Baudrillard). Die radikale Verführung wartet nicht mehr mit dem Anspruch auf, von einem Käufer etwas haben zu wollen! Sie suggeriert vielmehr in einer souveränen Atmosphäre, es gehe allein darum, etwas zu bekommen. Grund und Folge der Verführung werden verdreht.

Erlebnisräume sind doppelt codiert. In ihrer gespaltenen und doch zusammengehörigen Semantik liegt eine immer allgemeiner in unsere gesellschaftlichen Verhältnisse sich eingravierende Ambivalenz von Ästhetik und Anästhetik (das heißt von Wahrnehmbarem und Nichtwahrnehmbarem). Auf der glänzenden Vorderseite lösen Erlebnisräume die unterschiedlichsten Utopien ein (die des gelingenden Lebens, die der Freiheit oder auch nur die der Überwindung alltäglicher Mangelsituationen). Auf ihrer Rückseite bilden sich jene foucaultschen Strukturen der Akzeptabilität heraus, die die Empfindung gegenüber den Verletzungen durch die destruktive Produktivität des sozialen und technischen Fortschritts betäuben. Erlebnisräume sind deshalb der Versuch, den Schein im Medium des Scheins selbst zu überwinden! Drei Beispiele:

Touristische Erlebnisräume bestehen aus Elementen einer technisch reproduzierten Natur, die in ihrem Arrangement die gesuchte emotionale Intensität des Erlebnisses vermittelt – mit Abenteuerrutschen, exotischen Südseepflanzen, Papageien und anderen Traumzitaten. Touristische Erlebnisräume erhitzen auf diese Weise die menschliche Sehnsucht nach Freiheit auf jenen imaginären Siedepunkt, an dem Wunsch und Wirklichkeit kurzgeschlossen sind. Die hier aus technisch gebauten Fiktionen sich zusammenbrauende Wirklichkeit ist mit dem Wunsch identisch. Das Simulakrum wird zu einem zentralen Ort der Wahrheit. Die Utopie eines freien Lebens scheint – wenn auch nur zeitlich begrenzt – Wirklichkeit geworden zu sein.

Erlebnis-Kaufräume sind oft randvoll mit „Kunst“ gefüllt und als Kultur getarnt. Hinter dem Glanz der Ornamente verschwindet indes das dem Geschäft zugrundeliegende Verkaufsinteresse nie völlig! Weitaus wichtiger ist deshalb auch die symbolische Umcodierung des Kaufens selbst, das zum Erlebnis und darin zu einem Akt sozialer Integration wird, zu einem Akt, den man der eigenen Identität schuldet. Die Ware tritt hinter ihre „materiell-archaische“ Verwertbarkeit zurück, wird dagegen über die Symbolik ihres Erwerbers in Wert gesetzt, in besonderem Maße also an den sozialen Ort der Transaktion gebunden.

Der kunst-volle öffentliche Erlebnisraum der begärtnerten Brachen, der polierten und ziselierten Kanaldeckel, der skulpturenüberhäuften Plätze und signierten Künstlerfassaden appelliert an räumliche Identifikation und Heimat. Als solche will er sozialpolitische Konflikte mildern und innerstädtische Probleme bereinigen. Gelingen kann dieser Akt nur symbolisch und darin ideologisch. In seiner verborgenen Textur opponiert die in den öffentlichen Raum ausgesetzte Kunst nicht zuletzt gegen das allenthalben kaum noch übersehbare Elend in den gentrifizierten Städten.

Die Brechstange der Hyperästhetik

In Erlebnisräumen wird auf sinnliche Dichte gezwungen, was sich einer erlebbaren und erfahrbaren Nähe versagt – ganz gleich, ob in der Sphäre des Sozialen oder in der der Natur. Es ist die Brechstange einer Hyperästhetik, die hier mit medial-technischer Gewalt eine Qualität der Begegnung erschaffen soll, wo menschliche Distanz herrscht. Der ästhetische Gewaltakt ignoriert, daß in der Geste des Heranzerrens Nähe gerade verschwindet. Die ästhetische Struktur, die der Perversion der Pornographie zugrundeliegt, spiegelt sich letztlich in jedem hyperästhetischen Projekt wider: Was durch soziales Handeln in einem Verhältnis der Nähe nicht entfaltet werden konnte, zieht sich im Moment der technischen Herstellung von Dichte letztlich völlig zurück. Damit verschwindet aber auch die Imagination, die Einbildungskraft und das in ihr verborgene Geheimnis als letzte Ressource der Erzeugung neuer Entwürfe.