■ Sexualkundeunterricht an britischen Schulen:: Grundwerte und Gruppensex
Dublin (taz) – Großbritanniens Schulen sind „Brutstätten für frühreife Sexualität“, wenn man erzkonservativen KolumnistInnen wie Janet Daley von der Times glauben wollte. In der „verderblichen Schulatmosphäre“, so behauptet sie, werde den wohlbehüteten Kindern von ihren „sexuell hartgesottenen Klassenkameraden ein Gossenjargon“ aufgezwungen. Diese Ansicht ist nicht neu und wäre kaum der Rede wert, hätte Bildungsminister John Patten sie sich nicht zu eigen gemacht. Was ihm über den Sexualkundeunterricht berichtet worden sei, habe ihn in Wut gebracht, sagte Patten. Er hat eine offizielle Untersuchung eingeleitet. Auslöser dafür war ein Zeitungsbericht über die Highfield- Grundschule im nordenglischen Moorfield. Die Gemeindeschwester Sue Brady, die für Sexualkunde in der Region Leeds zuständig ist, soll einer Gruppe von Elf- und Zwölfjährigen Begriffe wie „Gruppensex“ und „oralen Sex“ erklärt haben, worüber sich zwei Eltern beschwerten. Das nahm Patten zum Anlaß, den neuen Tory-Schlachtruf – „Zurück zu den Grundwerten!“ – auch im Bildungswesen einzuführen.
Doch wie schon in den vergangenen Wochen, als hochrangige Tory-Politiker mit Schmiergeldskandalen, Waffenschiebereien und diversen Sex-Skandälchen in Verbindung gebracht wurden, so gehen die Konservativen wohl auch diesmal baden. Sue Brady ist nämlich ein völlig ungeeigneter Sündenbock.
Die 44jährige, die sich als „gläubige Christin“ bezeichnet, ist seit 23 Jahren Krankenschwester und hat sich 1989 auf Gesundheitserziehung an Schulen spezialisiert. „Es hat bisher noch nie Probleme gegeben“, sagt Brady. „Bisher kamen nur positive Reaktionen.“
Die Klassen werden in Kleingruppen eingeteilt, in denen über bestimmte Emotionen diskutiert wird. „Jede Gruppe bekommt einen Begriff zugeteilt“, sagt Brady. „Die Kinder sollen dann Worte aufschreiben, die sie damit assoziieren.“ An dem Begriff „Eifersucht“ entwickelte sich ein Rollenspiel, bei dem ein „Ehepaar“ über einen Liebhaber streitet. „Ich sagte lediglich, daß Eifersucht zu Wut werden kann“, meint Brady. „Von Gruppensex war nie die Rede.“ Die zweite Beschwerde resultierte aus dem Begriff „Mars- Riegel-Party“, den eine Gruppe notiert hatte. „Man läßt einen Mars- Riegel schmelzen und schmiert ihn sich über den Körper“, erklärte ein Zwölfjähriger. „Jemand anders leckt ihn dann ab.“ Wenn sie die Diskussion abgebrochen hätte, so glaubt Brady, hätten die Kinder das Gefühl gehabt, daß sie etwas vor ihnen verberge. „Ich versuche, immer so ehrlich wie möglich zu antworten“, sagt Brady. „Manchmal gibt es jedoch Fragen, die ich nicht beantworten kann, weil ich manchen Ausdruck nicht kenne, den die Kinder benutzen.“ Sowohl ihre Vorgesetzten als auch die LehrerInnen der Highfield-Grundschule betonen, daß sich Brady korrekt verhalten habe und es nicht den geringsten Grund für Disziplinarmaßnahmen gebe. Dank der Hexenjagd des Ministers, an der auch Labour-Politiker und die Boulevardpresse rege teilnehmen, mußte Brady jedoch untertauchen.
Das Bildungsministerium hat inzwischen die Anweisung herausgegeben, wonach der Sexualkundeunterricht „moralische Erwägungen und den Wert der Familie berücksichtigen“ muß. Das stieß bei Tory-Gesundheitsministerin Virginia Bottomley auf Kritik. Sie wünscht sich einen realitätsbezogenen Sexualkundeunterricht, da in Großbritannien 70 von tausend Teenagerinnen schwanger werden. In den Niederlanden, wo es diese Art von Unterricht schon lange gibt, liegt die Zahl bei acht. Ralf Sotscheck
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