: Stapelhocker aus dem Land der Polder
■ Freundlicher Funktionalismus und bisexueller Schmuck als Umrisse einer neuen Lebensweise: Das Museum für angewandte Kunst in Köln zeigt Design aus Holland
Wenn es so etwas wie demokratisches und soziales Design gibt, dann in Holland: Den ganzen aufgesetzten, kopflastigen, mitunter brutalen Dekonstruktivismus, mit dem das „Neue deutsche Design“ sich und den verstörten Benutzer aus dem Diktat des rechten Winkels zu befreien trachtete, sucht man dort vergebens. Holländisches Design baut auf der bodenständigen, menschennahen und deswegen ungebrochenen Tradition des Funktionalismus auf, den das Bauhaus-Pendant „De Stijl“ eingeführt hat. Das nonkonformistische, dichtbesiedelte Königreich mündiger Bürger, auf engem Raum im flachen Land, hat früher als andere Nationen die Dialektik zwischen hochentwickelter Individualität und dem Zwang zu Kollektivität auspendeln müssen.
Kein Wunder auch, daß öffentliche Räume und Dienstleistungen als erstrangige Gestaltungsaufgaben gelten: als ein Indiz für den Stellenwert von Gemeinschaftserfahrung – und wie man sie ästhetisch vermitteln kann. In Holland füllt man die am klarsten lesbaren Steuererklärungsformulare aus und zahlt mit dem schönsten Geld in Europa. Die bunten Scheine schüchtern nicht nationalistisch ein, sondern tragen leuchtende Natursymbole wie Sonnenblume oder Strandpfeifer.
Für dieses vorbildliche Design im sozialen Dienst, das derzeit flächendeckend im Kölner Museum für angewandte Kunst gezeigt wird, stehen auch jüngste Entwürfe für öffentliche Drogenspritzkabinen oder ein Masturbationsapparat für Behinderte. Design eröffnet Zugänge: Soziale Problemzonen werden symbolisch und gestalterisch integriert und nicht ins soziale und ästhetische Dunkel ausgegrenzt. Hollands Pilotfunktion beim Pubic Design zeigen auch die gelben Züge der Eisenbahn, mit denen wir an Ostern gerade nach Texel geflüchtet sind. Die bereits 1950 eingerichtete nationale Kommission, die Schrifttypen für den öffentlichen Gebrauch entwirft, möchte man der griesgrämigen Tristesse deutscher Obrigkeitsverwaltung empfehlen, die mit gotischer Amtsfraktur auf Abstand hält. 1967 eröffnete der Flughafen Schiphol erstmalig mit einem neuen Piktogrammsystem. Das prämiierte Designprodukt leitet heute durch alle Airports der Welt.
Europäischem Werte- und Trendwandel folgen Alltagsgegenstände: Das wie eine Ziehharmonika zusammenfaltbare Bücherregal aus Ahornholz, dessen Regalbretter sich aus gespanntem Packpapier bilden, oder Piet Hein Eeks Schrank aus unbehandeltem Abbruchholz. Nach dem symbolisch überfrachteten Pfauenradschlag der Postmoderne gibt man sich antiperfektionistisch, fast calvinistisch nüchtern, geht sparsam mit Raum und Material um. Möbel sollen keine auf ewig unverrückbare Scheinstabilität mehr vermitteln und all jenen provisorischen Lebensentwürfen nicht im Wege stehen. Auch Überlebensfragen stellt man sich im ressourcenfreien Staat seit Anbeginn. Holland selbst ist eine Formerfindung. Es hat sich schließlich mit dem Recycling von Meerschlamm selbst erschaffen. Inger Uipkes geschwungener Paravent ist aus geschnittenen Weißblechstreifen von Getränkedosen gefertigt und über ein Drahtgitter verwebt. In Deutschland setzt der jüngste Designtrend Wiederverwertung erst langsam ein.
Holländisches Design dagegen ist wie eine Polder – von geradliniger Schönheit. Solche benutzerfreundliche, nie gebieterische Funktionalität wie bei dem für den Rotterdamer Designpreis nominierten Stapelhocker gelingt im niederländischen Design ohne ästhetische Einbußen. Es ist elegant, nicht so geleckt wie das italienische, nicht so luxuriös wie das französische; einfach, klar, von menschlicher Modernität, „nie mit dem Kopf über dem Gras“ (Reyer Gras).
Zu dieser Art Avantgarde zählt auch der Schmuck der Design-Pionierin Emmy van Lersum. Mit einem Collier aus Abfallpapier dekonstruiert sie in egalitärer holländischer Tradition aufs eleganteste ein hochrangig statusorientiertes Luxusareal. Mit den Grundformen Kreis und Quadrat ohne symbolische Schnörkel läßt sich ihr Schmuck auch nicht mehr eindeutig einem bestimmten Geschlecht zuordnen. Das Ergebnis könnte man bisexuellen Schmuck nennen.
In allen Belangen der Gestaltung ist Holland mehr als Frau Antjes Käse- und Tulpenreich. Niederländisches Design gestaltet seit langem die Fragen der allernächsten Zukunft: Alltagsdemokratie und Zivilgesellschaft. Seine Mischung aus Zurückhaltung, Gebrauchsfähigkeit und Einfachheit wirkt wie ein ästhetisches Laboratorium einer neuen europäischen Lebensweise. Ingo Arend
„Made in Holland. Design aus den Niederlanden“, Museum für angewandte Kunst, An der Rechtschule, Köln; noch bis zum 10. April; Katalog, 151 Seiten, 45 DM
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