: „Hebron ist nach dem Massaker kollabiert“
Seit dem Massaker ist die Stadt im Ausnahmezustand / Skepsis über Entsendung der Beobachter ■ Aus Hebron Julia Albrecht
Wäre da nicht die Wunde auf seiner Wange, würde der Junge nicht weiter auffallen. Moas Jabari ist 11 Jahre alt. Er kniete neben seinem Vater in der Moschee. Dann fielen Schüsse. Sein Vater war sofort tot. Davon spricht Moas nicht. Aber seine Mutter, Widad Jabari. Sie spricht und spielt nach, was geschehen ist. Sie kniet sich hin, macht sich ganz flach und senkt die Stirn zum Boden. „Das war unsere Stellung, als die Schüsse losgingen.“ Die Frauen waren in einem separaten Raum der Abraham-Moschee, als Baruch Goldstein losfeuerte, getrennt durch eine Wand mit einer Tür, die von zwei Soldaten bewacht wurde. „Es gab Anzeichen dafür, daß etwas geschehen würde“, sagt Widad Jabari. „Niemals zuvor wurden wir von den Männern getrennt.“ Aber diesmal. Als sie die Soldaten beim Betreten der Moschee nach einer Erklärung für das ungewöhnliche Vorgehen fragten, erhielten sie die Antwort: Sie sollten nicht diskutieren, sondern die Anweisungen befolgen.
Noch etwas war anders als sonst: Widad Jabari greift einen ihrer Söhne. Reißt ihm an den Haaren den Kopf nach hinten, stößt ihn mit der Brust zur Wand und schlägt ihm auf den Rücken. „Das war die übliche Behandlung der jungen Männer“, sagt sie. Am Morgen des 25. Februar ließen die israelischen Soldaten hingegen alle Männer hinein, ohne Schikanen.
Was im Nebenraum geschah, konnten die Frauen nur hören. Als die Schüsse loskrachten, konnten sie zunächst nicht hinüber zu ihren Männern und Söhnen, die Soldaten ließen sie nicht durch. Später gelang es ihnen. Widad Jabaris Mann lag tot auf dem Boden. Dann wurde er weggetragen. Ihr Sohn Moas war unverletzt. Die Wunde auf seiner Wange stammt nicht von dem Massaker. Die Entzündung kam über Nacht. Jetzt trägt er sie wie ein Zeichen, daß etwas geschehen ist. „Nachts wacht er auf“, sagt seine Mutter. Wieder spielt sie die Szene vor. Sie klammert sich an die Gitter des Fensters und schreit. „Der Junge wacht auf und schreit: Faßt ihn, faßt ihn.“
Von der großen Veranda des Hauses Jabari blickt man direkt auf die israelische Siedlung Kirjat Arba. Wenn die Familienmitglieder hier sitzen, sind sie in Ruf-, Blick- und Wurfweite von jener Siedlung, in der Baruch Goldstein gelebt hat. Hier wohnen 6.000 radikale Juden. In großen, modernen Häusern, oft bis zu sechs Stockwerken hoch, haben sie sich am Rande Hebrons niedergelassen, um ihr vermeintliches Recht auf diesen Boden zu demonstrieren. „Nein, keiner von ihnen ist gekommen, um uns ihr Beileid auszusprechen“, sagt Widad Jabari. Durch das Fenster im Nebenzimmer blickt man in eine andere Richtung, auf eine weitere Siedlung. Sie ist kleiner und jünger als Kirjat Arba, erst wenige jüdische Siedler leben in den neuen Häusern. Vom Fenster aus weist Widad Jabari auf einen Flecken Land, der zu ihrem Grundstück gehört. „Dort habe ich neulich gesessen. Auf einmal kam eine Jüdin aus dieser Siedlung zu mir und sagte: „Dich werde ich auch noch umbringen.“
Die Siedler haben einen neuen Sticker in Umlauf gebracht, den sie an die Heckscheiben ihrer Autos kleben, „Hebron: Von Anbeginn und für immer und ewig“. Vor wenigen Tagen wurde hier eine große Demonstration zur Feier des 26jährigen Bestehens der jüdischen Siedlungen in Hebron abgehalten. Unter dem Slogan: „Hebron: Wo der Judaismus begann und wo Rabin fiel“, marschierten 10.000 Menschen, darunter viele, die aus Israel angereist waren, durch die Siedlungen. Zur gleichen Zeit beschlossen die Verhandlungsführer der PLO und Israels in Kairo, daß in der Stadt 160 internationale Beobachter stationiert werden sollen. Der Vorsitzende der israelischen Likudpartei, Binyamin Netanyahu, der auch zur Demonstration kam, kommentierte den Beschluß so: „Diese Entscheidung ist weder jüdisch noch zionistisch, sondern ein gefährlicher Präzedenzfall.“
Die Hebroniter sehen der Ankunft der internationalen Beobachter mit Gleichmut entgegen. „Sie werden nichs ändern, sie können nichts tun“, sagt Naji Dana, ein junger Journalist, der hier alle Leute kennt und den alle kennen. Er verbringt viel Zeit damit, sich auf den Straßen herumzutreiben und mit allen zu sprechen, um dann die wichtigsten Ereignisse in der geschlossenen Stadt per Telefon an internationale Nachrichtenagenturen weiterzugeben. „Die Beobachter werden beobachten. Sie werden sich in der Ferne aufhalten und kleine Berichte verfassen. Und?“ So sehen es die meisten anderen Menschen hier auch. „Wir brauchen keine Berichte, wir wissen, was hier los ist. Wir wollen, daß die Soldaten weggehen und die besetzten Gebiete an uns zurückgegeben werden.“
Seit dem Massaker in der Moschee sind mehr als 40 Tage vergangen, mehr als ein Monat, mehr als ein Zwölftel eines Jahres. Und noch immer ist kein „danach“ eingetreten, keine Normalität, kein Alltag. Alle Geschäfte sind geschlossen. Nur das Notwendigste ist auf den Straßen zu kaufen. Niemand geht zur Arbeit. Die Schulen waren 40 Tage geschlossen, 40 Tage lang, bis zum 25. März, war Ausgangssperre. Nur ein, zwei Stunden pro Tag durften die Palästinenserinnen und Palästinenser ihre Häuser verlassen, um Brot und Gemüse zu kaufen, sofern es überhaupt welches gab. Lebensmitteltransporte und andere Güter konnten die Stadt nicht erreichen. Dutzende von Leuten wurden bei israelischen Militäreinsätzen gegen Demonstrationen und bei Hausdurchsuchungen verletzt, einige getötet. Zusätzlich zur Ausgangssperre war Hebron durch Militärsperren von der Welt abgeschnitten. Journalisten, ist auch jetzt noch der Zugang verboten.
Am Checkpoint der israelischen Militärs kurz vor Hebron schauen Soldaten ins Auto. Wer nicht wie ein jüdischer Siedler oder ein palästinensischer Stadtbewohner aussieht, wird angeschnauzt: „Umkehren!“ Eine Anfrage beim Militärsprecher ergibt, man dürfe selbstverständlich hinein. Das ändert nichts an der Lage vor Ort.
Dann also der Weg durch die Berge. Durch kleine Dörfer, vorbei an einsamen Häusern in steinigen Bergen mit Olivenhainen und kleinen Wiesen. Die Fahrt von Jerusalem, normalerweise eine halbe Stunde, dauert so eineinhalb Stunden. Auch die Stadt Hebron mit ihren 120.000 Einwohnern liegt von Ferne da wie gemalt. Die hügelige Landschaft mit den weißen Feldsteinen und den grünen Wiesen bestimmen ihr Aussehen stärker als die Bauten. Die sind nur hingestellt auf das Grün, ein paar Straßen dazwischen, ansonsten Landschaft.
Wovon leben die Bewohner in Zeiten wie diesen? „Von dem, was sie haben, und dem, was hier wächst“, sagt Naji Dana, „und von Spenden der Freunde und Verwandten, die in anderen Städten der Westbank leben.“ Ein großes Problem sei gewesen, daß nach dem Massaker „alle Palästinenser bestraft wurden“. Die ganze Westbank stand ja mehr als zehn Tage unter Ausgangssperre und war noch länger abgeriegelt. „Also konnte niemand Geld verdienen“, nicht nur in Hebron, sondern auch in Ostjerusalem, in Nablus oder in Jericho. Doch während in den anderen Städten jetzt allmählich der Alltag wieder beginnt, bleiben die Straßen in Hebron leer.
Alles wäre ruhig, gäbe es da nicht diese Schußgeräusche. Sie kommen aus dem tiefsten Punkt der Stadt, aus dem Tal, wo die Altstadt gelegen ist, mit dem arabischen Markt und der Siedlung Bet Hadassa. Hinter einer Mauer leben hier die 21 Siedlerfamilien, um deren Evakuierung man sich in ganz Israel streitet. Rauch steigt aus dem Tal auf, Tränengas liegt in der Luft. Die Altstadt ist seit dem Massaker ganz geschlossen. Niemand darf hinein. Der Militärchef vor Ort sagt: „Erst muß Ruhe eintreten, dann öffnen wir die Altstadt und auch die Moschee.“
Die Moschee ist nicht nur für die gläubigen Moslems geschlossen, sondern auch für die Untersuchungskommission der PLO, die das Massaker aufklären soll. „Man verwehrt uns den Zugang“, sagt der Arzt Mohamed Djamal Hashlamoon, einer der elf Kommissionsmitglieder. Er ist für die medizinische Auswertung zuständig: „Ich habe alle Toten und Verletzten untersucht, die hier ins Krankenhaus kamen. Mindestens zwei verschiedene Waffen sind benutzt worden. Baruch Goldstein war nicht der einzige, der geschossen hat.“ Die PLO hat zusätzlich zur „offiziellen“ israelischen Kommission eine eigene gegründet. Warum? „Die Opfer waren Palästinenser. Die Mörder Israelis. Sollen die Mörder die Richter sein?“
Seit Montag ist der frühere palästinensische Bürgermeister von Hebron wieder im Amt, den die Israelis vor 13 Jahren abgesetzt haben. Daß Mustafa Al-Natscheh seinen Stuhl zurückerhielt, ist eines der Kairoer Verhandlungsergebnisse nach dem Massaker. Jetzt sitzt er wieder hinter seinem Schreibtisch in seinem großen Büro, umringt von älteren Männern. Auch er sieht es als seine wichtigste Aufgabe an, die Situation zu beruhigen. „Seit dem Massaker ist Hebron kollabiert“, sagt er. Er ermutigt die palästinensischen Zeugen des Massakers, vor der israelischen Kommission auszusagen, und er ist froh über die geplante Stationierung internationaler Beobachter. „Sie haben keine Macht, aber sie werden ihre Berichte schreiben.“
Der Journalist Naji Dana hält den Bürgermeister für einen „alten Lügner“. Er erzähle, daß er keiner Partei angehöre, dabei sei er in der Fatah. Er rede davon, daß er für Wahlen sei, statt dessen sei er einfach so auf den Posten zurückgekehrt. „Er hätte es ablehnen müssen, in seinen Job zurückzukehren“, sagt Naji Dana, „statt dessen hätte er darauf bestehen sollen, daß hier Bürgermeisterwahlen stattfinden.“ Natscheh war 1976 zum Vizebürgermeister gewählt worden. Zum Bürgermeister rückte er erst auf, als sein Amtskollege von den Israelis deportiert worden war. „Da war ich noch ein Kind“, sagt Naji Dana. „Hebron braucht einen jungen Bürgermeister. Einen, der die letzten Jahre auf der Straße verbracht hat, der die Probleme kennt, der im Gefängnis war und alles gesehen hat.“
Das sind nicht nur Sprüche eines jungen Mannes. Die Verzweiflung ist groß in der Stadt. Die Skepsis gegenüber den Plänen und Vorschlägen der verschiedenen Obrigkeiten kaum zu durchbrechen. „Arafat“, sagt auch Widad Jabari, die Frau, die ihren Mann in der Moschee verlor „hätte nicht zum Verhandlungstisch zurückkehren dürfen, bevor die gefährlichsten Siedlungen in Hebron nicht geräumt worden sind.“ Über die Stationierung der internationalen Beobachter kann sie auch nur lächeln. „Dann werden sie eben zuschauen und mitschreiben. Wir werden handeln.“ Die Siedler inserieren jetzt in israelischen Zeitungen: „Hebron darf nicht im Stich gelassen werden. Schicken Sie Beiträge, um die Stimme der Thora in der Stadt der Patriarchen zu stärken.“
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