■ Der Tschernobyl-Unfall jährt sich zum achten Mal
: Katastrophe ohne Gewöhnung

Der Mensch, heißt es, gewöhnt sich an alles. Auch an Katastrophen, die von Zeit zu Zeit wie Naturereignisse über ihn hereinbrechen. Der Tschernobyl-GAU unterscheidet sich von anderen Großunglücken. Diese Katastrophe kommt und geht nicht wie ein Flugzeugabsturz oder ein Erdbeben. Sie bleibt.

Das macht Gewöhnung schwierig. Besonders wenn die Wiederholung, womöglich am selben Ort, systematisch programmiert wird. Mittlerweile gilt es als wahrscheinlicher, daß sich der große Knall noch einmal ereignet, als daß er ausbleibt. Die Gründe sind banal und werden oft übersehen. Die sowjetischen Reaktoren sind heute acht Jahre älter und in der Regel acht Jahre klappriger als 1986. Die meisten westlichen auch. Das globale Reaktorarsenal leidet zunehmend an Überalterung. Weil ein Neubau von Atomkraftwerken in den meisten Ländern politisch und/oder ökonomisch blockiert ist, geht der weltweite Trend dahin, die Altmeiler erheblich länger kochen zu lassen als zum Zeitpunkt ihrer Errichtung vorgesehen. Das erweist sich, sind die Reaktoren erst einmal abgeschrieben, als lukrativer als jede andere Form der Stromproduktion. Die Rechnung wird später präsentiert und – vor allem – nicht von den Betreibern bezahlt.

In Weißrußland, das hat kürzlich eine landesweite Untersuchung offenbart, lebt die große Mehrheit der Bevölkerung acht Jahre nach der Katastrophe unter permanentem Streß. Vier von fünf Weißrussen machen das Tschernobyl-Trauma für ihre persönliche Befindlichkeit (mit)verantwortlich. Belorussische Soziologen haben ein regelrechtes „Pessimismus-Syndrom“ ausgemacht, das das Land, über dem 70 Prozent des Tschernobyl-Fallouts abregneten, lähmt und von dem ausgerechnet die Elite am stärksten befallen sei.

Ein Wunder ist das nicht: Die ökonomischen und sozialen Folgen sind unbestreitbar, die medizinischen nehmen, mit den üblichen Inkubationszeiten, immer bedrückendere Formen an. Von Hiroshima und Nagasaki wissen wir, daß das Schlimmste noch bevorsteht. Gewöhnung? Wenn überhaupt, dann kombiniert mit einer großen Portion Fatalismus. Gewöhnung im banalen Sinne gibt es auch im Westen nicht. Dafür sorgen Atomkraftgegner und Tschernobyl-Solidaritätsgruppen, die gegen die Macht des Vergessens ankämpfen, beispielsweise indem sie in diesem Jahr das sechzigtausendste Kind aus den verstrahlten Zonen zur Erholung nach Deutschland holen. Dafür sorgen die AKW-Betreiber, die fürchten, daß mit dem nächsten Super-GAU auch die eigenen Atomzentralen zur Disposition stehen. Und dafür sorgen nicht zuletzt die Reaktorhersteller, die – seit Jahren vergeblich – versuchen, ihre leeren Auftragsbücher im Osten zu füllen.

Die realen Konsequenzen des Tschernobyl-GAUs verharmlosen und die potentiellen des nächsten dramatisieren, lautet die zynische Strategie, mit der die Atomwirtschaft hierzulande die Politiker zu Milliardenspenden für die West-Nachrüstung der Ost-Reaktoren animieren wollen, um sich selbst zu sanieren. Doch – anders als bei der Finanzierung der Atomwaffenvernichtung – speisen die Politniks Industrie und Ostblock mit Almosen ab. Die reichen nicht, die Reaktorinvaliden sicherer zu machen oder, besser: Alternativen zu initiieren. Sie reichen allenfalls für eine Betriebsverlängerung der gefährlichsten Altmeiler – Risikoverlängerung statt Risikominderung.

Die Politiker, so scheint es, sind die einzigen, die sich gewöhnt haben: an die Ausstiegsforderungen der Atomgegner, an die Nachrüstforderungen der Atomwirtschaft, an die Verharmlosungsformeln der Verantwortlichen im Osten. Alles perlt ab. Zugegeben, sie blicken sorgenvoll drein, wenn sie über Tschernobyl konferieren. Aber sie glauben nicht wirklich, daß „es“ noch einmal passiert. Sollten sie sich irren, werden sie versichern: „Wir haben alles versucht. Gewöhnt haben wir uns an nichts.“ Gerd Rosenkranz