: Der Stille recht nahe
Der Mode entsagen, hart am Nichts entlang komponieren und trotzdem als „Paradiesvogel“ der Neuen Musik durchgehen – das schafft bloß einer: Gavin Bryars, Brite, Prof und großer Träumer ■ Von Christoph Wagner
„Ich spiele in der Band von Miles Davis – Trompete! Wir treten in einem riesigen Saal auf, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Es ist ein Livemitschnitt fürs Radio. Das Publikum ist völlig aus dem Häuschen. Es rast. Nach jedem Solo bricht ein Sturm der Begeisterung los. Ich werde immer nervöser, halte mich im Hintergrund. Doch unweigerlich kommt der Augenblick, wo Miles sich zu mir umdreht und mir zuraunt: ,Dein Solo!‘ Dann ist der Zeitpunkt erreicht, wo ich mich zwinge aufzuwachen.“
„Die Rache des Jazz“ könnte der Titel dieses Alptraums lauten, von dem Gavin Bryars seit längerem zwei- bis dreimal pro Jahr heimgesucht wird, wie er sagt. Die besondere Hinterhältigkeit des Traums: Bryars kann überhaupt nicht Trompete spielen – keinen Ton! Sein Instrument ist seit eh und je der Baß.
Der Gorecki-Effekt
Vielleicht ist es das schlechte Gewissen des Renegaten, das da nachts in seinem Unbewußten rumort, hat Bryars doch vor Jahren den improvisierten Klängen abgeschworen und sich fortan nur noch als Komponist zeitgenössischer Konzertmusik betätigt.
Der Erfolg gab ihm Recht. Heute gilt der smarte Engländer als einer der Stars der internationalen „Neuen Musik“-Szene. Seine Arbeit, ob mit dem Arditti Quartett, dem Hilliard Ensemble oder Robert Wilson („Medea“) – mittlerweile auf einem knappen Dutzend Platten dokumentiert –, hat ihm zu internationaler Anerkennung verholfen, obwohl oder gerade w e i l er ein Außenseiter und Paradiesvogel der Szene geblieben ist.
Unlängst gelang ihm sogar ein spektakulärer Coup. Eines seiner frühen Werke, „Jesus' Blood never failed me yet“, das 1975 erstmals auf Brian Enos „Obscure“-Label erschienen war und den Straßengesang eines Londoner Stadtstreichers zu einem bizarren Stück Minimalmusik verdichtete, avancierte in der Neufassung mit dem Rocksänger Tom Waits letztes Jahr zu einem „Hit“ der „Classic“- Charts – was Bryars kommerziell den Durchbruch bescherte und der Minimalmusik ihren ersten „Bestseller“. Die Branche sprach von einem zweiten „Gorecki-Effekt“.
Professor Bryars, Lehrstuhl-Inhaber an der De Montfort-University in Leicester, ist ein umgänglicher Mensch von direkter, unprätentiöser Art, einem trockenen Humor und einem zuweilen erfrischend schnoddrigen Umgangston. Er ist 51 Jahre alt und seit mehr als 30 Jahren im Musikgeschäft – was eine zu lange Zeit ist, als daß ihm sein aktueller Ruhm noch zu Kopf steigen könnte.
Ein Prof wie du und ich
Exaltiertes Stargehabe liegt ihm genauso fern wie die Pose des introvertierten Ästheten, die man vielleicht bei einem Komponisten seines Genres hätte vermuten können. Recht hemdsärmelig leitet er die Meisterklasse für Komposition an der Trent-Universität in Nottingham, die ihn für ein paar Tage zu einem Gastseminar eingeladen hat. Hände in den Hosentaschen, von einem Bein aufs andere wechselnd, hört er dem Workshop-Ensemble zu, das sich durch eines seiner Stücke müht. Manchmal schüttelt er den Kopf, oder ein leichtes Grinsen huscht über sein Gesicht, wenn sich die ausgebufften Konzertprofis vom East of England Orchestra in den Fußangeln seiner minimalistischen Klänge verheddern.
Dann bricht er ab und erläutert didaktisch geschickt und mit feiner Ironie einzelne Passagen, um den ausführenden Instrumentalisten als auch den Studenten, die als aufmerksame Zuhörer der Probe beiwohnen, einen Einblick in die innere Beschaffenheit seines Werkes zu vermitteln.
Es sind Klänge, die sich oberflächlich recht einfach ausmachen. Doch der Teufel – oder wer auch immer – steckt im Detail. Bryars' Musik, die zu vielfältig ist, um sie auf einen kurzen Nenner zu bringen, bevorzugt ein Bauprinzip, das repetitive Muster und harmonische Progression auf raffinierte Weise miteinander verbindet, ohne dabei die emotionale Kraft einfacher Melodien gering zu achten. So entstehen Tonlandschaften, die weit wirken, dabei aber oft dunstig und verhangen. Manche Konturen sind wie durch Nebel hindurch nur undeutlich auszumachen, was ihnen jene traumversunken-romantische Atmosphäre gibt, die immer wieder mit Bryars in Verbindung gebracht worden ist. Sowohl die Flüchtigkeit Satiescher Klaviermusik als auch die melodische Sensibilität Busonis sind als Einfluß zu spüren.
Die Kritik war schnell mit dem Terminus „neotonal“ zur Hand oder heftete den Briten unter dem Schlagwort „Neue Einfachheit“ ab, obwohl er sich energisch gegen jeden postmodernen Eklektizismus verwahrt. Damit habe er nichts am Hut. Das sei Philip Glass' und Michael Nymans Metier.
Das Ellington-Prinzip
Die Partitur gibt den ausführenden Musikern oft wenig zu tun. Sie stöhnen angesichts dieser Mühen der Ebene. Es ist paradox: Die meisten Schwierigkeiten bereitet die Musik, in der am wenigsten passiert. Das Nichts darzustellen, darin bestehe die Kunst, sagt Bryars, dessen Klänge manchmal der Stille recht nahekommen.
Weitere Tücken rühren von Bryars' Kompositionsstil her, den er das „Ellington-Prinzip“ nennt. Wie der Duke seine Musik ganz präzise auf sein Orchester zugeschnitten hat, sind auch Bryars' Kompositionen als Maßanzüge für sein eigenes Ensemble entstanden. Beim Schreiben der verschiedenen Stimmen hatte er nicht nur die einzelnen Instrumente im Auge, sondern auch den jeweiligen Musiker, dessen Fähigkeiten er genau kennt und dem er deshalb seinen Part förmlich auf den Leib schneiderte.
Das beste Beispiel dafür ist der Bratschist Alexander Balanescu, der lange Zeit Mitglied seiner Gruppe war. Balanescu, der mittlerweile recht erfolgreich sein eigenes Streichquartett leitet, stammt aus Rumänien, was sich in der Dramatik seines Violaspiels ausdrückt, aber auch in den Melodien, die Gavin Bryars sich für ihn ausgedacht hat. Für andere wird das Einstudieren von Bryars' Werken dadurch schwierig: In den Noten steht herzlich wenig über die Art ihrer Interpretation. Und welcher Geiger weiß schon wie Alex Balanescu zu spielen?
Mit der undankbarsten Aufgabe sieht sich allerdings der Bassist des Workshop-Ensembles konfrontiert. Er „schwimmt“. Was kein Wunder ist, denn von seiner Stimme existieren überhaupt keine Noten. Weshalb auch, wird sie doch üblicherweise von Bryars selbst übernommen, der, im Gegensatz zu einem Orchestermusiker, die Freiheit der Improvisation (wieder) zu schätzen weiß.
Musikalische Spaßguerilla
Das hat mit seiner Biographie als Musiker zu tun, die äußerst selten bloß den geraden Weg nahm. Immerhin hat sie einen klaren Anfang: die frühen sechziger Jahre in Sheffield. Während Bryars tagsüber Philosophie studierte und beim Organisten der Kathedrale Kompositionsunterricht nahm, verdiente er sich nachts seine Brötchen als Barmusiker: Er begleitete Cabaret-Shows.
Nur einmal in der Woche, bei einem „Saturday-Lunchtime-Concert“, war es möglich, wildere Jazztöne anzuschlagen. Im Trio mit Derek Bailey (Gitarre) und Tony Oxley (Schlagzeug) versuchte man sich anfänglich an neuem Jazz im Stile von Bill Evans und Eric Dolphy, um allmählich in freiere Improvisationen überzugehen.
Was Bryars mehr und mehr frustrierte. Er fühlte sich außerstande, die objektive und reflektierte Haltung beim Komponieren mit der subjektiven und intuitiven Improvisationsweise unter einen Hut zu bringen. 1966 kam es zum Bruch. Bryars zog einen Schlußstrich unter seine Jazzkarriere und rührte für 17 Jahre seinen Baß nicht mehr an.
Ein längerer Aufenthalt in den USA versprach neue Inspiration. An der Universität von Illinois begegnete er John Cage, dem er bei der Realisation einiger seiner Projekte half. Wieder zurück in London, nahm Bryars zum radikalen Experimentierzirkel um Cornelius Cardew Verbindung auf, mit dessen Scratch-Orchestra er ein paar Mal auftrat. Doch Cardews Weltbild war ihm auf die Dauer zu dogmatisch und starr.
Starke Impulse gingen in diesen Jahren von den visuellen Künsten aus. Fluxus machte Furore, und als Happening kann auch die Gründung der Portsmouth Sinfonia (mit u.a. Brian Eno und Steve Beresford) im Jahr 1969 verstanden werden. Bei der Formation handelte es sich eigentlich um ein stinknormales Laienorchester, das einfach nur klassische Musik spielen wollte. „Eine angenehme Art, den Nachmittag zu verbringen“, wie Bryars es ausdrückt. Mit einem Unterschied: Dem Ensemble durfte nur beitreten, wer sein Instrument nicht beherrschte. Solche selbstgegebenen Gesetze verwandelten die Gruppe in den Augen ihrer Anhänger in ein Spaßguerilla-Orchester, das die „hohe“ klassische Musik durch den Kakao zog – was nicht die Absicht der Musiker war. „Wir gaben unser Bestes, doch wir waren eben unfähig!“ Mit spektakulären Auftritten, bei denen ein „Classic light“-Programm in dürftiger Weise zur Aufführung kam, erreichte die Gruppe rasch Kultstatus, was ihre zwei Langspielplatten zu Sammlerobjekten werden ließ.
Ähnlich provokativen Geist versprühten auch die beiden ersten Werke von Bryars, die auf Platte erschienen sind. „The Sinking of the Titanic“ war eine Komposition voller Untergangsmelancholie, die durch ihre tonale Struktur und die weiten melodischen Bögen so offensichtlich aus der Zeit fiel, daß sich die Avantgarde herausgefordert fühlen mußte. Was für „Jesus' Blood never failed me yet“ in gleichem Maße galt, handelte es sich dabei doch um eine Collage, die das Wort Minimalmusik anders buchstabierte.
Blacklisted!
Die Quittung kam postwendend: Bis 1987 wurde kein Stück von Bryars mehr im Klassik-Kanal der BBC gesendet. „Blacklisted“! Erst seine internationale Anerkennung weichte den Boykott auf.
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Fortsetzung
Bryars konnte nicht länger ignoriert werden, obwohl er weiterhin alles tat, um musikalisch zu beunruhigen. So wurde seine Unberechenbarkeit in den letzten Jahren zur einzig verläßlichen Konstante seiner Arbeit.
Auch seine neueste Produktion geizt nicht mit Überraschungen. Neben zwei Klangmalereien für größeres Instrumentalensemble kommt auf „Vita Nova“ ein neues Interesse an der menschlichen Stimme zum Vorschein – in einem zerbrechlichen Stück für Countertenor und Streichtrio und einer A- cappella-Komposition, die speziell für das Hilliard-Ensemble konzipiert wurde.
Traumarbeit
Bryars' Impfstoff gegen die Gefahren des Erfolgs setzt sich aus den Elementen Vielfalt und Innovation zusammen. Der Gedanke, eines Morgens als Teil des musikalischen Establishments aufzuwachen, gegen das er sich zeitlebens aufgelehnt hat, behagt ihm gar nicht. Damit wäre nämlich der nächste Alptraum vorprogrammiert: „Ich befinde mich auf der Tribüne eines großen beleuchteten Festsaals. Unten im Parkett sitzen Menschen in Smoking und Abendkleid. Der englische Musikpreis wird vergeben. Vorne am Pult gibt gerade ein Redner den Gewinner bekannt. Die Person dreht sich zu mir um und überreicht mir den Preis. Es ist nicht Miles Davis. Es ist Andrew Lloyd Webber.“
Gavin Bryars: „Vita Nova“ – ECM New Series 1533/445 351-2 (CD).
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