: Ein trostloser Abschied im 49. Jahr
■ An diesem Sonntag vor 49 Jahren wurde Deutschland befreit oder, so die andere, gebräuchlichere Lesart: Deutschland kapitulierte. In diesen Wochen kehren die russischen Sieger von einst endgültig in...
An diesem Sonntag vor 49 Jahren wurde Deutschland befreit oder, so die andere, gebräuchlichere Lesart: Deutschland kapitulierte. In diesen Wochen kehren die russischen Sieger von einst endgültig in ihre Heimat zurück. Und anders als beim Abzug von Briten und Amerikanern
im Westen geht ein großes Aufatmen durch das deutsche Volk.
Ein trostloser Abschied im 49. Jahr
Aus ausgedünntem Orchester klingt scheppernd der Abschiedsmarsch herüber, hohl sind die offiziellen Reden, spärlich das Publikum, das gekommen ist, um „Do Swidanija!“ zu rufen. Mai 1994, irgendwo im neuen Ostdeutschland. Die „Westgruppe der (vormals) sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ hat eine ihrer letzten Garnisonen geräumt. „In vorfristiger Planerfüllung“, gibt der Kommandant beim anschließenden Empfang bekannt. Den anwesenden deutschen Honoratioren entgeht der leichte Anflug von Selbstironie.
Zurück bleiben: verwohnte Kasernen, bunt angestrichene Zäune, kontaminierte Böden und erleichterte Deutsche.
Es wird keine einzige Einheit der Westgruppe mehr geben, die den 50. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands 1995 feierlich begehen wird. Vor angetretener Truppe wird niemand mehr die Namen der Bataillonsangehörigen aufrufen, die im Großen Vaterländischen Krieg gefallen sind. Keine Statue Lenins, sei sie aus Erz oder Gips, wird, dem Zeitgeist trotzend, dem Appell präsidieren.
Alles geschieht in diesem, dem 49. Jahr, zum letzten Mal. Und es geschieht auf die denkbar trostloseste Weise. Im Wettkampf der Peinlichkeiten hat der Streit zwischen Russen und Deutschen über die Frage, wer mit wem wann und wo den Abschied feiert, die Querelen um den D-Day in der Normandie weit hinter sich gelassen.
Die sowjetischen Kriegsdenkmäler einschließlich ihrer dräuenden Waffenarsenale sind vertraglich vor Abbruch geschützt. Aber den T-34-Panzer bei Drewitz, dessen Geschützrohr vier Jahrzehnte lang den Autoreisenden die Richtung nach Westberlin wies, haben die russischen Militärs längst vom Sockel geholt, um ihm die Verwandlung in ein rosarotes Pop-Objekt zu ersparen.
Auch das Riesen-Panorama „Die Schlacht um Berlin“ wird in Wünsdorf abgebaut und nach Moskau geschafft werden. Das einzigartige Werk hätte sich zum Prunkstück eines Euro-Disneyland vor den Toren Berlins entwickeln können, denn „unsere“ großen Panoramen (wie das der Schlacht von Sedan gewidmete) sind längst dahin. Aber der Ankauf für 'nen Appel und 'n Ei paßte wohl nicht ins Konzept deutschnationaler Geschichtsbildner.
Anfang und Ende der sowjet- russischen Präsenz in Deutschland weisen e i n e bedrückende Gemeinsamkeit auf: Das Bild „des Russen“ in der (ost-)deutschen Bevölkerung hat sich innerhalb von fünfzig Jahren kaum verändert. Immer noch herrscht der Dünkel zivilisatorischer Überlegenheit, mit Angst unternäht. Nur daß sich zwischen diesen beiden Grundgefühlen jetzt die Gewichte verschoben haben. Mai 1945 – das war die nackte Furcht, der fünfte apokalyptische Reiter. Wer irgend konnte, flüchtete sich in die Arme der anglo-amerikanischen Retter in den Westen. Wer bleiben mußte, vergrub seine Pretiosen, versteckte Frau und Töchter und bereitete sich seelisch auf die lange Reise gen Osten vor.
Niemand hat dieses Gebräu aus nazistischer Indoktrination, schlechtem Gewissen und der Erfahrung wirklicher Greueltaten mit solcher Intensität geschildert wie Uwe Johnson im dritten Band seiner „Jahrestage“. Und keine Anstrengung der oral history würde die Erfahrung mit der Besatzungsmacht so rekonstruieren können, wie Johnson es tat, als er im mecklenburgischen Jerichow seiner Phantasie den Antifaschisten und Bürgermeister Cresspahl im nächtlichen, wodkagetränkten Kleinkrieg mit dem Standortkommandanten Puni zeigte.
Wie würde er heute sein Jerichow sehen, so ganz ohne die „Freunde“? Wie Neuruppin 1992, nachdem das den sowjetischen Offizieren vorbehaltene Villenviertel geräumt und zur Besichtigung freigegeben worden ist? Damals schlug die Stunde der eingeborenen Saubermänner: „Die Keller sind zugeschissen“, war zu hören, „in den Wänden steckt der Schwamm, die Böden sind ruiniert, die Installationen im Eimer. Alles abreißen!“ Und ganz ohne die Vorsicht, die die Bevölkerung im Westen bei der Wortwahl leitet, kam der Stoßseufzer: „Endlich russenfrei!“ Wer um einen halbwegs zivilisierten Abschied von den „Freunden“ bemüht war, hatte damals in Neuruppin alle Hände voll zu tun. Es galt, die Folgen plötzlich aufkommenden deutschen Mutes einzudämmen. Schlägereien, Messerstechereien, sogar ein Todesfall mußte unter den Teppich gekehrt werden. Was blieb? Der bis heute andauernde Kampf aller gegen alle um die hinterlassenen Liegenschaften.
Unter der Herrschaft des Realsozialismus war freilich alles getan worden, um die sowjetische Armee von der Bevölkerung abzuschotten und damit die Vorurteile gut gekühlt zu konservieren. Da half kein freiwilliger Ernteeinsatz sowjetischer Rekruten und kein Tag der offenen Tür bei den Streitkräften. Langjährigem Unterricht zum Trotz blieben die Russsichkenntnisse der DDR-Schulbevölkerung rudimentär, um nach dem Schulabgang alsbald zu verkümmern.
Es gab keinen sowjetischen AFN, keine sowjetischen „Dschiens“, keinen sowjetischen Dylan (obwohl Wysotzki mindestens ebenso gut war). Die Sprache der DDRler erwies sich als resistent gegenüber Eindringlingen aus dem Russischen. Die sowjetischen Soldaten aber blieben, nachdem die Erinnerung an den Schrecken der Jahre 1945 bis 1948 verblaßt war, in den Augen der Bevölkerung, was sie dort immer gewesen waren: arme, geduckte, unwissende Kreaturen.
In ihrem anrührenden Film „Abschied von Meiningen“ hat Heide Reidemeister den Prozeß nachgezeichnet, in dem die sowjetischen Soldaten nach dem Augustputsch 1991 zu politischem Leben erwachten. Wie sie auch ideologisch sonst auseinanderdrifteten, die Befragten zeigten durchweg ein Verständnis und eine Sympathie für Deutschland, die den deutschen Betrachter des Films nur mit Beschämung erfüllen konnte. Denn in unserer Publizistik vom Beginn des Truppenabzugs bis heute erscheint der erst sowjetische, dann russische Soldat stets nur als raffgieriger Geschäftemacher („Lieber reich als ruhmreich“), der die letzten Monate seines Aufenthalts in Deutschland dazu nutzt, D-Mark beiseite zu schaffen – und sei es, indem er seine eigene Kalaschnikow verscherbelt.
Aus der Erinnerung an die „militärische Formation“ Westgruppe wird sich bestimmt nichts Völkerverbindendes destillieren lassen. Die Truppenteile, die dem Naziregime den Todesstoß versetzten und Deutschlands Osten befreiten, trugen den gleichen Namen wie die, die 1953 in Berlin auf streikende Arbeiter schossen und im Jahre 1968 den Prager Frühling erstickten. Aber vielleicht wird ein künftiger Besucher Kasans oder Bakus, Kiews oder Alma Atas einem freundlichen Gastgeber die Frage stellen, wo er sein Deutsch herhabe. Und der wird antworten, er habe es – trotz allem – als Soldat in Jerichow gelernt. Christian Semler
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