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„Voll auf die Grünen“

■ Das Buch zur Partei: Grüne Kursbestimmung / Kampf mit der Realität und der eigenen Partei / Fücks: Rot/grün nur, wenn Weichen gestellt werden

Politischer Bücherfrühling in Bremen: Gestern stellte der ehemalige Mitarbeiter der grünen Bundestagsfraktion, Lothar Probst, sein neuestes Werk vor. „Kursbestimmung: Bündnis 90/Grüne“, trocken kommt der Titel daher, für den Probst als Herausgeber zeichnet. Aber er versammelt eine illustre Autorenliste. Die reicht vom bürgerbewegten Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ullmann über den ideellen Gesamtgrünen Joschka Fischer bis hin zum Ex-Bremer und mittlerweile Hamburger enfant terrible Jo Müller. Reichlich grüne Prominenz also, und mittenmang die beiden Bremer SenatorInnen Helga Trüpel und Ralf Fücks. Die stellten ihre Beiträge gestern auch persönlich vor.

Seit dem Wahldesaster der Grünen im Jahr 1990, als sie bei der ersten gesamtdeutschen Wahl an der fünf-Prozent-Hürde hängengeblieben waren, ist es still geworden um die Ökopartei. Im Bundestag saßen gerade mal acht Bürgerbewegte – ein Symbol für den Bedeutungsverlust, den die Grünen hatten hinnnehmen müssen. Die Welt, die die Grünen interpretiert hatten und die sie sich jetzt zu verändern anschickten, war aus den Fugen geraten. Und seit der deutschen Vereinigung scheint die Lage für die Grünen nicht einfacher geworden zu sein. Auch wenn die rot/grüne Option für eine zukünftige Bundesregierung rechnerisch wahrscheinlicher geworden ist: Erstens läßt die Bundes-SPD unter Scharping bislang jeden Reformwillen vermissen, zweitens aber lebt der grüne Aufschwung von den fehlenden Argumenten der anderen Parteien. Gleichzeitig zogen andere Gruppierungen wie die Statt-Partei Protestwähler auf sich, kein Wunder, denn die Grünen hatten mit den Jahren und der gewachsenen (Regierungs–)Verantwortung ihren Nimbus verloren. Probst: „Wir sind nicht mehr die Unschuld vom Lande“.

In dieser Situation proben Probst und seine SchreiberInnen die Definition von „Eckpunkten künftiger Politik“. Für Helga Trüpel bedeutet das vor dem Hintergrund ihrer eigenen praktischen Erfahrungen in der Landesregierung Auseinandersetzung mit zwei Seiten. Erstens mit dem wachsenden Fremdenhaß in der Gesellschaft und dem geschürten Unwillen der Deutschen, Migration als Realität anzunehmen. Die zweite Konfliktlinie verläuft aber zwischen ihr und ihrer eigenen Partei. Hier die Perteiideologie von den „Offenen Grenzen“, da der Versuch, pparktische Migrationspolitik zu machen.

Diese Struktur gilt nicht allein für den Beitrag der Bremer Senatorin, den sie zusammen mit ihrem Mitarbeiter Matthias Güldner geschrieben hat. Ob sich Achim Schmillen, Mitarbeiter der Bundestagsgruppe, mit den Erfordernissen zukünftiger Außenpolitik auseinandersetzt, oder ob der Publizist Bernd Ulrich der provozierend formulierten Frage nachgeht, „Was sollen die Grünen in der Regierung?“ – aus vielen Beiträgen dampft die Distanz zum eigenen Verein. Wenn Helga Trüpel versucht, moderne grüne Migrationspolitik zu definieren, dann bedeutet das gleichzeitig immer die Distanzierung von den immer noch gültigen Beschlüssen von den „Offenen Grenzen“.

Diese Distanz ist alles andere als zufällig. Nach den alten grünen links-rechts-Schemata beurteilt: Probst hat die Parteirechte in seinem Band vereinigt, kein Wunder also, daß der notorisch linke Parteisprecher Ludger Volmer dann doch lieber nicht mittun wollte.

So müssen sich einige AutorInnen mit ihren Themen an der ideologischen Hartleibigkeit ihres Heimatvereins abarbeiten. Helga Trüpel hat das Pech, daß die Grünen die Migrationspolitik ideologisch betoniert haben. Spannend wird der Band immer da, wo die Beiträge die innergrünen Auseinandersetzungsrituale verlassen, wo die Autoren den Versuch wagen, sich der gesellschaftlichen Realtität pur zu stellen. So oft werden die großen Zeitfragen nicht gestellt, schon gar nicht im politischen Raum. Nicht nur den Grünen ist die Kraft abhanden gekommen, wenigstens die richtigen Fragen zu stellen.

Ralf Fücks macht diesen Versuch. Der Wohlfahstsstaat ist nicht mehr zu halten, damit zerbröselt, was die bundesrepublikanische Gesellsvchaft in ihrem Innersten zusammengehalten hat. Der demokratische Konsens geht flöten, und soll die Gesellschaft nicht auseinanderfliegen, so Fücks, müsse ein Kraftakt her, „vergleichbar mit der ersten industriellen Revolution“. Weichenstellungen für eine zukunftsfähige Ökonomie: Energiewende, neue Verkehrstechnik, Umstellung auf ökologisch vertretbare Produktion, drastische Reform der Arbeitszeitordnung, Entstaatlichung der Sozialpolitik bei gleichzeitiger Stärkung des Selbsthilfepotentials – nicht weniger als das. Fücks: „Und diese Verantwortung fällt voll auf die Grünen“, denn die SPD weiche diesen Fragen aus. Scharping, nur wenig mehr als die Fortsetzung der CDU mit ähnlichen Mitteln.

Ob unter diesen Voraussetzungen rot/grün eine realistische Variante ist, daran hat selbst der regierungserprobte Fücks erhebliche Zweifel. „Rot/grün muß sich an diese Inhalte knüpfen.“

J.G.

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