: „Kultur, die Europa gefehlt hat“
Die Bonner Ausstellung „Europa, Europa“ will osteuropäische Kunstgeschichte in den Westen holen ■ Von Stefan Koldehoff
Deutschland ist nicht mehr geteilt, die Russen verlassen den Osten der Republik, und wieder gilt es eine Geschichte neu zu schreiben: diesmal die der Kunst im Europa der vergangenen 100 Jahre. Dieses Ziel hat sich ein ebenso ambitioniertes wie gigantomanisches Ausstellungsprojekt in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn gesteckt, für das als Gastkurator der polnische Kunsthistoriker Ryszard Stanislawski verantwortlich zeichnet. „Diese Ausstellung hat nur eine einzige große und wichtige Aufgabe“, erklärt der 73jährige selbstbewußt. „Nachdem sich in den vergangenen 50 Jahren eine europäische Kunstgeschichte entwickelt hat, die gar nicht auf die Kunst im Osten eingeht, wollen wir belegen, daß diese Teilung in Ost und West eine künstliche war. Danach könnte die Kunstgeschichte anders aussehen.“ Er habe sich 1981 sehr über den Titel der Kölner Ausstellung „Westkunst“ geärgert, gesteht Stanislawski ein: „Der war für uns aus dem Osten fast nicht anzunehmen. Gab es damals keine Ostkunst? Deshalb ist aber hier in Bonn keine Gegenausstellung entstanden. Wir zeigen die Kultur, die dem westlichen Europa gefehlt hat.“
Einmal mehr wird mit einer Ausstellung griffige Theorie von Kunsthistorikern belegt. Stanislawski und sein deutscher Kollege Christoph Brockhaus unternehmen diesen schon durch seinen Umfang aussichtslosen Versuch auf 5.200 Quadratmetern mit Hilfe von bald 1.600 Exponaten aus den Bereichen Bildende Kunst, Fotografie, Theater, Literatur, Architektur, Film und Video. In elf Sektionen mit blumigen Titeln wie „Aufbruch zur Avantgarde“, „Die Welt konstruieren“ oder „Surreale Imagination“ chronologisch präsentiert, stellt diese selbst in Deutschlands größter und reichster Kunsthalle notgedrungen exemplarische Auswahl keine nationalen Trends im Sinne einer Länderkunstgeschichte vor. Wer dem nur in einer Richtung begehbaren Ausstellungsparcours folgt, stellt fest, daß statt dessen jene Künstlerpersönlichkeiten im Vordergrund stehen, die einen eben wesentlichen Beitrag zur europäischen Kunstgeschichte geleistet haben.
Avantgarde als Beliebigkeit
„Avantgarde“ heißt das vermeintliche Zauberwort, das Grundverschiedenes vereinen soll. Hier hat das Bonner Konzept seinen ersten großen Schwachpunkt: Wer Kunst auf Namen und Namen auf avantgardistische Funktion reduziert, tritt – abgesehen von der Beliebigkeit eines so instrumentalisierten Avantgarde-Begriffes – automatisch in Konkurrenz zu den monographischen Retrospektiven, die in den vergangenen Jahren überall in Deutschland zu sehen waren: Popowa in Köln, Tatlin und Filonow in Düsseldorf, Kandinskys russische Jahre und „Die große Utopie“ in Frankfurt und und und... Kommt dann noch der in Bonn unternommene Versuch hinzu, mehr als 120 Individualisten eher zwangsweise unter elf Topoi zusammenzufassen, gerät die Ausstellungsstruktur zwangsläufig zur willkürlichen Angelegenheit. So finden sich im letzten Teil der Ausstellung unter der Überschrift „Transitorische Aspekte“ sowohl Christo Javacheff und Roman Opalka als auch Erik Bulatow und Ilja Kabakow wieder. Die völlig verschiedenen künstlerischen Ideen und Konzepte, die sich in verschiedenen Medien lediglich manifestieren, kommen zu kurz, Möglichkeiten der gegenseitigen Rezeption werden nicht thematisiert. Zwar sind wichtige programmatische Positionspapiere und Manifeste in einem von vier Bänden des insgesamt 1.290 Seiten umfassenden Katalogpaketes sorgfältig dokumentiert; in der Ausstellung selbst aber wird das meiste unvermittelt zusammengepfercht.
Symptom der Unvereinbarkeit
Die von Stanislaw Kolibal resolut angelegte Ausstellungsarchitektur betont den zwanghaften Aspekt dieser Präsentation noch: Ein einziger Weg ist durch das Labyrinth der Hallen und mit Stellwänden abgetrennten Kabinette zugelassen. Was stringent aufeinander aufzubauen vorgibt, wird doch wieder räumlich zersplittert und zerfasert dadurch auch inhaltlich. Die Architektur wird zum Symptom der eigentlichen Unvereinbarkeit. Durchgänge und optische Bezugnahme verhindern schwere rote Absperrkordeln. Als roter Faden durch die Ausstellung dienen Malerei und Skulptur. Andere Disziplinen wie Architektur, Theater, Film, Buchkunst, Musik oder Fotografie wurden in beinahe hermetische Nebenräume verbannt.
Nur ganz selten läßt die erschlagende Fülle der Exponate Entdeckungen zu. In der ersten Abteilung „Vom Symbolismus zur Abstraktion“ hat der Pole Witold Wojtkiewicz geheimnisvoll verschleierte Szenen rund um die sakral in eine Säulenrotunde gestellte Skulptur „Der Vogel im Raum“ von Constantin Brancusi gehängt. Auch der „Traum des Opiumrauchers“ des Ungarn Lajos Gulácsy oder die pastosen Landschaften vom Slowenen Rihard Jakopic sind von den zeitgleich zu Beginn dieses Jahrhunderts in Paris und Berlin entstandenen Werken der Impressionisten und Expressionisten ganz und gar unabhängig – und in ihrer Eigenständigkeit im Westen bestenfalls einem interessierten Fachpublikum bekannt gewesen.
Unvermeidliche Inkunabeln
Für seine kunsthistorische Fleißarbeit standen Ryszard Stanislawski potente Geldgeber zur Seite: Mit jeweils 5 Millionen Mark haben die nordrhein-westfälische „Stiftung Kunst und Kultur“ und die Bundeskunsthalle selbst das seit vier Jahren geplante Vorhaben finanziert. „Das meiste davon ging für Recherche drauf“, erzählt Stanislawski. „Wir sind durch ganz Europa gefahren, um die Museen und vor allem deren Depots zu durchforsten. Denn auch in Osteuropa beginnt man gerade erst damit, die eigenen Bestände aufzuarbeiten.“ Trotzdem trifft man auch in Bonn auf all jene Hauptwerke, die anscheinend zu unverzichtbaren Inkunabeln geworden sind. Natürlich sind Kandinskys frühe Aquarelle und Tatlins ebenso oft gezeigter Turm da, natürlich Malewitschs schwarzes Quadrat und der zuletzt in Düsseldorf gezeigte Licht- Raum-Modulator von Lászlo Moholy-Nagy. Selbstverständlich ist Lubow Popowa mit ihren Theaterentwürfen präsent und Marc Chagall mit seinen Witebsk-Erinnerungen. In der thematisch eingeschobenenen Sektion „Präsenz des Judentums“ hängen sie nun neben Werken von Jankel Adler, dem damit endlich jene Bedeutung zukommt, die ihm in Deutschland noch immer versagt bleibt.
Allein eine verschämt in einem Seitenkabinett versteckte Diaschau ist in Bonn dem „Sozialistischen Realismus“ gewidmet. Pathetisch kommentiert hier eine Wochenschau-Stimme die Unvereinbarkeit des Ausstellungskonzeptes mit dieser offiziellen Spielart der Ostkunst, um so ihrer Dämonisierung Vorschub zu leisten. „Gegen diese Kunst haben sich die Künstler der Avantgarde gewandt“, lautet die affirmative Argumentation, „deshalb wollen wir sie nicht gleichberechtigt daneben hängen.“
Der Gegenwartskunst ist indes einzig die große Ausstellungshalle im Erdgeschoß vorbehalten. Nur über eine Treppe von oben zu erreichen ist dieser Raum wenig gegliedert. Die Schwierigkeiten des vier lange Jahre durchdachten Ausstellungskonzeptes werden hier am deutlichsten. Der seit 1977 in Frankreich lebende Konzeptkünstler Roman Opalka ist als Sohn polnischer Eltern (!) mit acht Zahlenbildern vertreten. Der aus Rumänien geflohene Christo Javacheff, der die amerikanische Land- art als sein Metier vermarktet, stellt eine Großfotografie und 18 zum Teil verhüllte Ölfässer als nichtssagende Relikte einer Pariser Aktion zum Mauerbau aus. Vertreter aktueller Kunstströmungen im Osten sind beide damit ebensowenig wie der (in Ungarn geborene!) Op-art-Pionier und Wahlfranzose Victor Vasarély. Ilja Kabakows beredte Rauminstallation „Der Mann, der niemals irgendetwas wegwarf“ wurde dagegen an eine Wand der großen Halle gedrückt. Andere Vertreter der Moskauer Konzeptualisten aus den sechziger und siebziger Jahren sind erst gar nicht vertreten.
Die Bildhauerin Magdalena Abakanowicz legte schließlich selbst Hand ans unstimmige Konzept: Zu nah standen der Polin ihre 14 lebensgroßen kopflosen Jutefiguren an der Wand, zu disparat erschien ihr der Gesamteindruck: „Wer die Treppe herunterkommt, soll nicht zuerst die einzelnen Figuren sehen, sondern den Gesamteindruck erfassen können“, forderte die 64jährige und begann ihre Skulpturen in die richtige Ordnung zu bringen. Was ihr gelang, schafft die Bonner Ausstellung nur ansatzweise.
„Europa, Europa – Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa“. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, bis 16. Oktober 1994. Katalog: vier Paperback- Bände im Schuber (auch einzeln erhältlich), 1.290 Seiten, 120 DM, Verlag Hatje/Cantz, Stuttgart.
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