piwik no script img

Literarische Birnen kann man nicht essen

Freiherr Friedrich Karl von Ribbeck möchte nach Ribbeck im Havelland zurückkehren. Aber das Erbe ist schon verteilt, auch die ehemaligen Mitglieder der LPG wollen ihr Land behalten  ■ Von Niklaus Hablützel

Der Freiherr brauchte Hilfe. Er fragte im Dorf, ob ihm jemand seine neun Hektar Land umpflügen könnte, die er neulich gekauft hatte. Nun ja, wurde im beschieden, das müsse man schon schriftlich haben. Hintenherum gehe das wohl nicht. Also schrieb Friedrich Karl von Ribbeck einen Brief an die Agrar-Genossenschaft von Ribbeck im Havelland. Eine Antwort hat er nie erhalten, wenigstens keine schriftliche. Keine Zeit habe er dafür gehabt, soll der Geschäftsführer gesagt haben, als der Freiherr das Dorf besucht hat. Und später sei dann keine Schreibmaschine aufzutreiben gewesen.

Die Wiese hat ein Bauer aus dem Nachbardorf gepflügt, der Streit, der vielleicht gar keiner war, ist beigelegt, nur ein Mißverständnis – und gekränkter Stolz. Eine lange Geschichte steckt dahinter, Märchen kommen darin vor, und literarische Birnen, es geht um Gedenk- und Grenzsteine. Im Vertrag über die Einheit Deutschlands ist davon nicht die Rede. Als die Sieger des zweiten Weltkrieges und die Regierungen der deutschen Staaten verhandelten, wollten sie die Vergangenheit in Ruhe lassen. Also einigten sie sich darauf, das Recht der Besatzer zu respektieren, die im deutschen Osten den Großgrundbesitz enteignet und an Kriegsopfer und Flüchtlinge verteilt hatten.

Aber auf dem Dorf hält sich die Geschichte nicht an Verträge. Hier muß sie immer wieder ganz von vorne buchstabiert werden. Jedesmal hinterläßt sie neue Spuren. Die Baracke der LPG an der Hauptstraße zum Beispiel oder die Kantine, die jetzt nach dem Dichter Fontane heißt. Und vor das Gutshaus aus dem Jahr 1826 hat die Arbeiterwohlfahrt ein Schild gestellt. Es weist in westdeutscher Sprache darauf hin, daß sich hier eine „Seniorenwohnanlage“ befinde.

Der letzte Herr wurde von den Nazis ermordet

Vor kurzem noch, als das Herrenhaus eine sozialistische Anstalt für Alte und Kranke war, sollen die Zustände „menschenunwürdig“ gewesen sein, sagt die Kirchgemeinde. Sie hofft, daß auch diese Vergangenheit repariert wird – repariert wie die kleine Kirche, die kein bedeutendes Bauwerk ist, aber immerhin ins Mittelalter zurückdatiert werden kann. Schon jetzt ist der Innenraum wieder ausgemalt im Stil des letzten Jahrhunderts, des einzigen, das in der Überlieferung lebendig blieb.

Die fromme Erinnerung an den Schmuck des Gotteshauses hat den Sozialismus so hartnäckig überlebt wie die Erzählung vom Birnbaum, der einst aus dem Herzen eines guten Herrn von Ribbeck wuchs. Mit einem Gedicht von Theodor Fontane stieg sie in die Schulbücher auf. Alte Postkarten zeigen den Segensbaum, wie ihn der dichtende Bürger auf seinen märkischen Reisen noch gesehen haben mag, fest verwachsen mit der Kirchenmauer. Ein Sturm brach den Stamm schon 1911 entzwei, ein erster Nachfolger wollte nicht recht gedeihen, das Bäumchen, das heute neben dem Kirchturm steht, ist 1961 gepflanzt worden. Durchreisende werfen einen Blick darauf und memorieren die Anfangszeilen: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, ein Birnbaum in seinem Garten stand ...“

Den letzten Herrn auf Ribbeck hatten die Nationalsozialisten vertrieben. Im Konzentrationslager Sachsenhausen kam er im Februar 1945 ums Leben. Beharrlich hatte er sich geweigert, den braunen Herren den Hitlergruß zu entrichten. Als „Opfer des Faschismus“ durfte der Sohn ein Stück des Erblandes zurückkaufen. Doch schon zwei Jahre später verfügte der Rat des Kreises, daß auch Hans Georg Friedrich Henning von Ribbeck das Gut zu verlassen habe. Der Freiherr floh in den Westen, das Dorf seines Namens hat er niemals wieder besucht.

Im 13. Jahrhundert werden die Herren von Ribbeck zum erstenmal erwähnt, lange bevor die Volkslegende nachweisbar ist, die Fontane nur nachgedichtet hat. An so viel Tradition konnte auch die selbsternannte Partei der Werktätigen nicht ganz vorbeigehen. „Lütt Dirn, kumm man rüwer, ick hebb 'ne Beern“, schrieb Fontane noch 1889. Im Treppenhaus des Herrensitzes hat ein klassenbewußter Maler mit einem Wandbild der Junkersage seine eigene Deutung gegeben. Ein Dickwanst mit Rock und Degen steht vor dem Birnbaum, Kinder strecken die Hände nach der Frucht aus, die er ihnen bloß vorzeigt. Auf der anderen Seite des Baumes führt eine neue Straße zum Herrenhaus empor, das zum Richtfest beflaggt ist. Der Fortschritt schrieb die Jahreszahl „1956“ in den gemalten Himmel, das Landhaus wurde zum Altersheim umgerüstet. Eine Krankenpflegerin behütet auf dem breiten Weg in diese Zukunft drei Kinder, von denen eines einen ganzen Korb voller Birnen trägt.

Ein rätselhaftes Bild, so eindeutig seine Botschaft sein möchte. Immerhin berichtet Fontane von einem guten und einem bösen Herrn. Wo ist der Unterschied geblieben? Der Text unter dem Gemälde verrät es nicht, er kennt nur eine einzige Herrschaftsklasse: „Der harte, fette, feiste Herr läßt die Armen und Bedürftigen vor sich knien und betteln. Doch unter der Führung der Partei der Arbeiter und Bauern erhalten die Alten und Bedürftigen einen schönen und geruhsamen Lebensabend.“

Naiv und gewaltsam zugleich war dieser radikale Versuch, eine Geschichte umzuschreiben. Ganz gescheitert ist er bis heute nicht. Er hinterließ grauverputze Häuschen für Landarbeiter. Das Junkerland in Bauernhand gehörte bald einer einzigen LPG. Nur auf dem Papier ist sie 1991 aufgelöst worden. 62 der über 80 Genosssen brachten ihren Anteil in eine neue Gesellschaft ein, die so neu nicht war: Der Leiter der LPG ließ sich als Geschäftsführer der nunmehr privaten Agrar-GmbH ins Amtsregister eintragen.

17.000 Hektar möchten die Ribbecks zurückhaben

„Ein guter Landwirt ist das“, meint Friedrich Karl von Ribbeck. Niemanden wolle er vertreiben, sagt er, nur selbst zurückkehren, und das „möglichst schnell“. Vorsorglich hat er seinen Rechtsanspruch angemeldet. 700 Hektar Acker und 1.000 Hektar Wald mögen den letzten Herren auf Ribbeck gehört haben. Das Staatsland wenigstens, das heute die Treuhandanstalt verwaltet, wollen die Erben in Besitz nehmen. Eine Mehrheit des Bundestages hat ihnen schon recht gegeben. Ohne Entschädigung sollten die Enteigneten ja nie bleiben, nun sollen sie ihr Land billig zurückkaufen dürfen.

Auf den Bundesrat, an dem diese Lesart des Einigungsvertrages wohl scheitern wird, mag der Ribbecksche Erbfolger nicht warten. Ihn wundert nur, daß von der Genossenschaft noch niemand zu ihm gekommen ist. Was aber gäbe es zu besprechen? Schon zweimal ist das Gut ohne ihn aufgeteilt worden. Auf seinem gekauften Acker jedoch, dem schließlich doch gepflügten, will Friedrich Karl von Ribbeck am 2. Oktober dieses Jahres 1.000 Birnbäume pflanzen. Ein Zeichen soll das sein wie schon der Gedenkstein für den Großvater, den er im Gutsfriedhof aufstellen ließ. Die Kirchgemeide feierte mit, die neuen und alten Agrargenossen blieben zu Hause.

Der Freiherr ist Kaufmann geworden, hat in der Stahlbranche gearbeitet und vertreibt heute im Auftrag einer schwäbischen Firma Inneneinrichtungen für Friseurgeschäfte. „Schauen Sie sich um“, sagt er, „hier muß etwas geschehen.“ Er denkt an das ganze Dorf. Gewerbe müßte ansiedeln, manches Grundstück könnte besser genutzt werden als unter der Regie der Genossenschaft. Und eine kleine Miete für die Wohnungen, die auf dem enteigneten Boden stehen, die sei doch wohl zumutbar – allein schon um die Anwaltskosten auszugleichen, die bei der Erbengemeinschaft anfallen.

So schnell aber werden hier die Herren nicht gewechselt, auch wenn es die alten sind. Nicht nur die Regierung im Land Brandenburg, auch die umgewendete Genossenschaft bremst den Tatendrang. Das Dach des Pferdestalles ist eingestürzt, die Ziegelbrennerei und andere Wirtschaftsgebäude stehen leer. Schon die LPG hat sie nicht mehr gebraucht, noch weniger kann die Agrar-GmbH damit anfangen. Sie muß rechnen, die Preise für ihre Milch, ihre Rüben, den Raps und das Fleisch sind gefallen. Was der Herr von Ribbeck unternehmen will, womöglich in den Ruinen des Gutshofes, das kann der Buchhalter im Genossenschaftsbüro nicht begreifen. Er kennt ein Beispiel aus einem anderen Dorf. Bei Wittstock haben Westdeutsche zwei Höfe gekauft, einen Reitstall eingerichtet und bieten Ferien auf dem Lande an. „Aber was nützt das unseren Leuten?“ fragt der Finanzmann.

Die Backstein- und Fachwerkkaten an der Straßenkreuzung stammen aus dem letzten Jahrhundert. Hier wohnten die Landarbeiter der Gutsherren, keine Knechte, sondern „Schnitter“, wie man sie nannte. Die LPG hat die historischen Wohnungen umgebaut für die Flüchtlinge aus dem Osten. Ein Enkel dieser ersten Generation sozialistischer Siedler mäht den Rasen vor dem Baudenkmal, in dem er aufwuchs. Arbeit findet er heute nur außerhalb des Dorfes. „Man wird ja sehen“, sagt er über die freiherrlichen Pläne. Seine sind es nicht, wozu also darüber nachdenken? Stumm schiebt er den elektrischen Mäher vor sich her und achtet darauf, daß er die Grenze zum Rasenstück des Wohnungsnachbarn nicht verletzt.

Arbeit gibt es nur noch außerhalb des Dorfes

Überaltert wäre das Dorf auch ohne die Pflegefälle der Arbeiterwohlfahrt im Herrenhaus, das in der DDR „Schloß Havelland“ heißen mußte, um den Sieg über den Klassenfeind zu vergrößern. Der falsche Name ist geblieben, auch die Farbe blättert immer noch von der Fassade. Jüngere Nachkommen des Sozialismus möchten ihr neues Privateigentum ganz gerne anderen überlassen, weiß man in der Agrargenossenschaft. Es gibt ohnehin zu viele Arbeitskräfte. Vierzig sind noch in der Genossenschaft beschäftigt. Weit weniger wären nötig für die 930 Hektar Boden. Etwa die Hälfte davon hat die GmbH von der Treuhand gepachtet, den Rest von den ehemaligen LPG-Mitgliedern. 90 Mark pro Hektar und Jahr stellt die Treuhand in Rechnung, nur 60 Mark bekommen die Genossen für ihre Grundstücke. Ganze fünf von ihnen arbeiten noch selbst mit, der Stundenlohn liegt bei zehn Mark.

Die anderen sind in Rente gegangen. Als die Gemeinde einen Bürgermeister wählen sollte, fand sich kein Kandidat. Norbert Sommer, Bauer mit eigenem Land, ließ sich vom Gemeinderat überreden – „weil sonst keiner wollte“. Einmal die Woche hält er seither seine Sprechstunden ab im Gemeindebüro, das sonst leer steht. Die Akten muß er zu Hause allein lesen und beantworten.

Jetzt aber liegen ihm ganz andere Dinge am Herzen als die Sorgen der Gemeinde. Da muß er sich „mal Luft schaffen“, sagt er und beginnt noch eine Geschichte: Auch sein Großvater besaß ein Stück Land, 32 Hektar nur, sie wurden enteignet, weil er Nazi und Bürgermeister in seinem Dorf war. Ein Gericht im vereinigten Deutschland hat ihn rehabilitiert, ein schlimmer Nazi war er wohl nicht, aber damit ist der Streit um das Land von neuem ausgebrochen. Drei Siedler hatten es nach dem Krieg geschenkt bekommen, einer möchte es jetzt verkaufen. Dagegen hat der Enkel einen Anwalt eingeschaltet. Vergessen sind die politischen Fronten, der demokratische Bürgermeister von Ribbeck im Havelland jedenfalls kann den Freiherrn von Ribbeck aus Westdeutschland „gut verstehen“. Auch er möchte wiederhaben, was ihm die Umstände genommen haben. Mal waren es Nationalsozialisten, mal Kommunisten. Unten im Dorf ist der Unterschied geringer als oben am Verhandlungstisch, wo die Weltgeschichte geschrieben wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen