■ Sphinx, Sphinkter et cetera: Europäische Sommerakademie zu Berlin
Man geht ja als Berlinerin eh schon gemessenen Schrittes durch die Stadt, weil man an jeder Ecke bereit sein muß, guten Mutes auf eine überwältigende Geschmacklosigkeit zu treffen; ich sage nur: kleine Wursthüttchen am Zoologischen Garten oder riesige Haufen Unappetitliches auf dem sogenannten Gehweg und so weiter. Daß aber plötzlich selbst vor der Akademie der Künste eine riesige braune Sphinx aus Pappmaché hocken muß, stimmt traurig und mißlaunig zu ungefähr gleichen Teilen.
Sie grüßt die Besucher der 5. Europäischen Sommerakademie Film und Medien, die am Sonntag abend mit einem Vortrag von Peter Sloterdijk anhob. Unvermeidlich auf dem Fuße folgte ein „Gespräch in Spiralen“, jawohl, Spiralen, zwischen den Herren Kamper, Machow und eben Sloterdijk, welches sich um die Frage ringeln sollte, was eigentlich geschieht, wenn die Sphinx schweigt. Die Sphinx, dieses Fabelwesen mit Löwenbody und Mädchenkopf, terrorisiert die Wanderer mit einem Rätsel („Was geht morgens auf vier Beinen, mittags auf zweien und abends auf dreien?“), bis Ödipus kommt und „der Mensch“ sagt, worauf sie sich in den Abgrund stürzt.
Saß man bis dahin noch relativ okay in dem Gefühl, einer Sommerplauderei beizuwohnen, bekam die Sache im Folgenden immer mehr den Charakter einer bloßen Sprachapplikation, eines rasenden Sommerschlußverkaufs, als wollten sich da drei der Sphinx hinterher mit dem Bade ausschütten, endlich etwas anderes machen als Medientheorie, Philosophie und unbedingte Sinnvermeidung. Wenn sie geschwiegen hätte, die Sphinx halt, so hätte sie, sagte Machow, eben synchronisiert werden müssen; ganz im Sinne Nietzsches (wer im Moment auch nur eine Sekunde den Kopf aus dem Fenster hält, kriegt einen Nietzsche draufgehauen) habe sie darüber gesprochen, wo sie herkommt: sie ist nämlich, unter anderem, das Produkt eines Inzests zwischen Mutter und Sohn. Und Spengler, wenn das noch jemand interessieren sollte, habe von einer Pseudomorphose gesprochen. Jawohl, Pseudomorphose.
Sloterdijk, nicht faul, erklärte die Sphinx als Inkarnation der größten möglichen Untergangseinheit, eines Reiches, eines gescheiterten politischen Wahns, weshalb man eben, gerade in Deutschland!, jawohl Deutschland, keineswegs darauf verzichten sollte, sie zu befragen. „Darf ich auch mal was sagen“, rief ein junger Mann von hinten, den meine Großmutter umstandslos als „Flappes“ beschrieben und mit einer Kopfnuß versehen hätte. Habe das nicht was mit Analfetischismus zu tun, dieses zurückgehaltene Staatsgeheimnis, und heiße der Analmuskel nicht medizinisch Sphinkter? „Auch interessant!“ riefen welche, „hier hat jeder was zum Sag'n“; und als dann im weiteren Verlauf nur noch von menschlichen Monstren die Rede war, glaubte man sich vollends in Neil Postmans medienscheltender Betstube, und die braune Figur am Eingang paßte irgendwie wieder. mn
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