: VfB Stuttgart statt Ballzauberbrigade
Zehn Brasilianer wursteln sich am Independence Day gegen die USA per 1:0 ins Viertelfinale ■ Aus Palo Alto Matti Lieske
Die gewohnte brasilianische Dominanz im Stanford- Stadium war diesmal empfindlich gestört.
Bisher hatten die Südamerikaner in Palo Alto praktisch Heimspiele gehabt, doch nun mußten sie erstmals erleben, daß ihr Gegner den größeren Begrüßungsapplaus einheimste und ihre Anhänger die Minderheit der 84.147 Zuschauerinnen und Zuschauer darstellten. Die Mehrheit bejubelte das US- Team, das sich ausgerechnet am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, anschickte, ein Fußballwunder zu vollbringen, mindestens so groß wie der Sieg der USA gegen England im Jahre 1950 oder der WM- Gewinn der Deutschen gegen die für unbesiegbar gehaltenen Ungarn vor auf den Tag genau 40 Jahren.
„Bring on Brazil“ wurde großspurig auf Transparenten gefordert und einige Fans hatten sogar Samba-Trommeln mitgebracht, damit den Brasilianern nicht nur auf dem Spielfeld, sondern auch auf den Rängen Paroli geboten werde.
Milutinovic hat ja recht: „Es gibt keine Wunder.“
„Es gibt keine Wunder“, hatte jedoch schon zuvor der „Miracle Man“ der Nordamerikaner, Coach Bora Milutinovic, geäußert, und der serbische Globetrotter neigt dazu, Recht zu behalten. Brasilien zeigte sich sowohl auf fußballerischem als auch auf akustischem Gebiet klar überlegen, selbst wenn das Team eher wie der VfB Stuttgart spielte als wie eine südamerikanische Ballzauberbrigade.
Der vor allem nach neueren Vorkommnissen zu Recht furchtsame Trainer Carlos Alberto Parreira, dem sie, wie er kürzlich äußerte, das Haus anzünden, sollte seine Mannschaft nicht Weltmeister werden, hatte den eleganten und erfindungsreichen Rai auf die Bank gesetzt und die Verantwortung im Mittelfeld sowie die Kapitänsbinde dem Schwabenländler Carlos Dunga übertragen, Spezialist für Sicherheitsfußball und durchsichtige Spielzüge jeder Art.
Für Rai ins Team kam als eine Art Buchwald der defensivere Mazinho (nicht zu verwechseln mit dem Ex-Bayern), Jorginho machte den Strunz, Bebeto, außer bei seinem Tor, den Kögl, Leonardo fühlte sich für den Berthold-Part zuständig, nur der Fritz Walter der Brasilianer ist ein paar Klassen besser und heißt Romario.
Konsequent und bissig, ohne die USA zu unterschätzen, ging das Dunga-Team in Mittelfeld und Abwehr zu Werke, verteilte sehr gut die Bälle, spielte über die Flügel, Überraschendes passierte jedoch nur, wenn Romario in Ballbesitz kam. Ansonsten hatten es Boras Boys, die mit Mann und Maus verteidigten und oft wie eine Knabenmannschaft allesamt dahin rannten, wo der Ball gerade war, relativ leicht, die Angriffe abzufangen. Anders als gegen Kolumbien gelang es ihnen jedoch kaum, selbst Torchancen herauszuspielen, auch wenn der dreadlockige Cobi Jones wie ein Brummkreisel die Außenlinie entlangwirbelte.
„Mehr Haare auf dem Spielfeld“, hatte Verteidiger Alexi Lalas auf die Frage geantwortet, was der Einsatz von Cobi Jones für den gesperrten John Harkes bewirken würde. Er bewirkte aber auch mehr Schnelligkeit, die vor allem Jorginho ärgerte, dem Jones immer wieder in die Flankversuche rauschte.
Die beste Gelegenheit der USA hatte Tom Dooley in der 12. Minute mit einem Schrägschuß, der knapp am Tor vorbeitrudelte, die Brasilianer hingegen wurden erst richtig wach, als sie sich plötzlich in Unterzahl wiederfanden, nachdem Leonardo den ihn festhaltenden Tab Ramos in der 42. Minute mit dem Ellenbogen krankenhausreif geschlagen hatte und dafür die rote Karte bekam. „Da wurde uns klar, daß es schwieriger wird als erwartet“, sagte Bebeto, „von da an haben wir uns alle noch ein bißchen mehr angestrengt.“ Vor allem Romario fing an zu dribbeln und schoß an den Pfosten.
„Meine Position bringt es mit sich, daß ich wohl bei Romario rumhängen werde“, hatte Lalas zuvor gemutmaßt, in der zweiten Halbzeit wurden er und seine Abwehrkollegen von der kleinen Einmanntorfabrik jedoch eher abgehängt. Als das Übergewicht der Brasilianer auch mit einem Akteur weniger immer größer wurde, war es Romario, der das Spiel entschied, obwohl er selbst erheblich weniger Zielwasser als sonst getrunken hatte. Seine Sololäufe brachten Freistöße, eigene Torchancen und in der 74. Minute das frenetisch gefeierte Siegtor, als er einen perfekten Paß auf Bebeto spielte, der den Ball zwischen dem herangrätschenden Lalas und Keeper Meola ins lange Eck zirkelte.
Bora Milutinovics Analyse: „Brasilien ist Brasilien.“
Jetzt mußten die US-Amerikaner in die Offensive gehen und damit waren sie verloren, denn das können sie noch weniger als die Iren. Sicher brachte Brasilien das 1:0 über die Zeit.
Bebeto machte anschließend dem unterlegenen Gegner massive Komplimente, hatte aber nicht die mindesten Gewissensbisse, den „amerikanischen Traum“, von dem vorher so viel die Rede war, beendet zu haben: „Wir haben selber unseren eigenen brasilianischen Traum.“ Bora Milutinovic freute sich, „daß wir uns in solch einer großartigen Atmosphäre verabschieden konnten“ und benötigte zur Spielanalyse nur drei Worte: „Brasilien ist Brasilien.“
Letzte Zweifel daran hatte direkt nach dem Schlußpfiff Carlos Dunga ausgeräumt. Zielstrebig rannte er zu einem bestimmten Fanblock und kurzzeitig mußte man befürchten, daß er eine VfB- Stuttgart-Fahne zutage fördern würde. Dann war es aber doch die brasilianische Flagge, die er begeistert schwenkte. Soll sie allerdings bei dieser WM noch öfter wehen, müssen die Brasilianer, bei aller Wertschätzung für das US-Team, im Viertelfinale gegen die Niederlande endlich auch spielen wie die Brasilianer. Wenigstens ein bißchen.
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