: Die Ise und die Aktion Otterschutz
Der Fluß Ise in Niedersachsen wird renaturiert / Der Fischotter mutiert dabei zum Indikator für intakte Wassersysteme / Die Mitwirkung der Bevölkerung ist gefragt, aber eher spärlich ■ Von Heide Platen
Heidschnucken-Rücken mit Rosmarin, Thymian, Wacholder und Rotwein, das Rezept mag Vegetarier schütteln. Die elf MitarbeiterInnen des Projekts „Revitalisierung der Ise“ in Hankensbüttel freut es, denn Heidschnucken sind nicht nur eine alte, regionale Schafrasse, sondern auch „extensiv“. Das wünscht sich Projektleiter Oskar Kölsch auch von Kartoffeln, Rüben und Rindern, am besten den ganzen 42 Kilometer langen Flußlauf und die noch einmal 378 Kilometer Nebengewässer entlang. Die Ise ist ein kleiner Fluß, der nördlich von Wittingen in Niedersachsen aus mehreren Bächen zusammenrieselt, im künstlich angelegten Bett den Elbe-Seiten-Kanal unterquert und bei Gifhorn in die Aller mündet. Das Projekt begann 1990 und soll bis ins Jahr 2000 fortgesetzt werden. Finanziert wird es von Bundesumweltministerium, Land Niedersachsen, Landkreis Gifhorn und aus Spenden und Einnahmen der „Aktion Fischotterschutz“, die auch Träger und Zentrale des Projektes ist.
Nein, sagt Kölsch, „die Ise soll nicht zurückgebaut“ werden. Zum einen mangele es an alten Karten, zum anderen sei „diese Baggerei, bei der es mäandern muß“, auch Zerstörung zugunsten „einer romantizistischen Naturvorstellung“. Der Lauf der Ise habe sich während der Jahrhunderte immer wieder verändert. Er setzt deshalb „auf die gesteuerte Eigendynamik“ des Flusses. Und das bringt die Hankensbütteler in Konflikt mit anderen Natur- und Artenschützern. Daß 70 Prozent der 16 Millionen Mark Fördermittel für den Ankauf und Tausch von Ackerflächen ausgegeben wurden, auf denen kein schützenswertes Hälmchen oder Käferchen zu entdecken ist, scheint den Kritikern Geldverschwendung. Und der Bevölkerung gefällt das nun dort wuchernde „unordentliche Unkraut“ erst recht nicht. Kölsch setzt dagegen, daß Naturschutz eben Geduld brauche und nur Sinn mache, wenn er „auf 100 Prozent der Fläche“, also auch auf der durch Menschen genutzten, stattfinde. „Natur-Reservate“ für Enzian und Kröten wiederum finden in Hankensbüttel wenig Anklang. Statt dessen sollen kleine Schritte langfristig wirken: „Das muß später hier vor Ort von den Menschen getragen werden. Wenn wir weg sind, kann nicht alles wieder werden wie vorher.“ Konkret heißt das, Acker in Weidefläche umzuwandeln, weniger und später zu mähen, Randstreifen zum Ufer und Hecken im Gelände wachsen lassen, Kläranlagen verbessern. Auch im Fluß soll nicht mehr so oft oder gar nicht gemäht und die Flußsohle nur an wenigen Stellen ausgebaggert werden.
Daß die Menschen in der Region, die im Umland als „sture Heidjer“ gelten, mißtrauisch sind, wirtschaftliche Verluste, Überschwemmungen und Mückenplagen fürchten, kann der Agrarökonom Kölsch gut verstehen. Der Sandboden ist karg, die Erinnerungen an „ganz schlechte soziale Verhältnisse“ sind in der Region noch wach. Die Schönheiten der Heidelandschaft lagen den Menschen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts noch ebensowenig an Herz und Gemüt wie die der Wälder. Manfred Kühn zitiert in der Zeitschrift Prisma eine Reisende, die die Lüneburger Heide im Jahr 1801 durchquerte: „Die Eile war das Beste von der Reise, denn hilf Himmel welch ein Land! Ich wurde seekrank von dem einförmigen Anblick der Heide und des Himmels.“
Billiges Land für die extensive Nutzung
Das Projekt, betont Kölsch, braucht die Freiwilligkeit der Menschen, die weiter von Landwirtschaft und Tourismus leben müssen und Freizeitsport treiben wollen. „Einbeziehung der Betroffenen“ und „Freiwilligkeit“ sind ihm das Wichtigste, auch bei Behörden und Verbänden. Die Bauern können das vom Projekt gekaufte Land unter Auflagen sehr billig pachten oder eigenes Land gegen Entschädigung extensiv bewirtschaften. Erste Versuche, umweltschonende Produkte zu vermarkten, hat es mit Kartoffeln geben. Einer der vorher größten Kritiker des Projekts baute sie auf einem Versuchsfeld an. Auch Gemüse, Getreide und Rindfleisch könnten, kommt Kölsch ins Schwärmen, mit einem Gütesiegel regional vermarktet werden.
Daß es nicht so einfach ist, vor Ort auf den guten Willen und die Bereitschaft zur Mitarbeit zu zählen, weiß er mittlerweile. Da gab es Drohbriefe und -anrufe, im Dezember 1993 brannte das Hauptgebäude des Fischotter-Zentrums mit Cafeteria und Otter-Shop aus. Wenige Wochen später kippten Unbekannte Heizöl in den Otterbach, im Januar 1994 lag ein toter Steinmarder vor der Tür, im April gab es wieder einen Anschlag. Die Ruinen des Gebäudes stehen schwarz am Ufer des Isenhagener Sees, weil das Geld für den Neuaufbau fehlt und die Besucherzahlen drastisch zurückgingen. Daß der Geschäftsführer der Aktion Fischotterschutz, der ehemalige Förster Claus Reuther, als Brandstifter in Verdacht geriet, ärgert ihn sichtlich: „Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.“ Dafür sorgte auch eine Solidaritätswelle. Café und Laden zogen in die Scheune zu den Steinmardern, die hier ebenso gezeigt werden wie Baummarder, Iltis und Dachs. Auf Spiel- und Erlebnispfaden wird Natur nicht nur gesehen, sondern auch gerochen und gefühlt. Zivildienstleistende beantworten geduldig Fragen: „Wie heißt er, was frißt er, was wiegt er?“ Nein, die flauschigen Otterhunde, eine in England seit dem 12. Jahrhundert gezüchtete und ebenfalls bedrohte und hier bewahrte Jagdhunderasse, „werden nicht mit Perwoll gewaschen“.
„Emotionale Leimrute“ für den Naturschutz
Ulla und ihre anderthalbjährigen Jungen Gerry und Gesa sind von der Art her Eurasische Fischotter (Lutra lutra), im Hauptberuf aber die Zugpferde des Otterzentrums. Deshalb verspeist Ulla zur Mittagszeit zierlich ein Kükenbein. Die eigentlich dämmerungs- und nachtaktiven Tiere werden zweimal täglich gefüttert. Das mag nicht ganz artgerecht sein, bringt aber Geld in die Kassen. Claus Reuther hofft, daß sich die geringen Populationen, die westlich und östlich des Flusses überlebten, auch in der Wanderungs-Barriere Ise-Niederung irgendwann wieder heimisch fühlen werden. Vom „Vernetzen“ auf dünnen, naturbelassenen Bachufern und Feldrainen hält er nicht sehr viel. Nur wenn die gesamte Landschaft einbezogen werde, könne sich die Natur erholen. Und mit ihnen die Otter, die mit ihren runden Gesichtern, den Knopfaugen und der possierlichen Verspieltheit so trefflich geeignet sind als Wappentier, als „emotionale Leimruten“ des Naturschutzes. Manchmal fürchtet er, ihre Popularität könne das Anliegen verdecken. Daß sie bis auf winzige Restbestände aus Niedersachsen verschwunden sind, lag nicht daran, daß die Parole für Fischer und Jäger bis in dieses Jahrhundert „Tod dem Otter“ hieß. Erst die intensive Land- und Wassernutzung nach dem Zweiten Weltkrieg dezimierte ihn nachhaltig. Zum Schutz des Otters, rechnet Reuther vor, wären für 200 Tiere 2.000 Kilometer halbwegs intakter Wasserwege mit Uferbereichen von 60.000 Hektar als Schutzgelände vonnöten. Nur saubere Wassersysteme könnten die Otterpopulationen wieder regenerieren.
Es ist schwer, die in den letzten vier Jahren gemachten Fortschritte vorzuzeigen. Die Spuren intensiver Land- und Wasserwirtschaft sind an der Ise unübersehbar und werden das noch lange bleiben. An vielen Stellen rennt der Fluß schnurgerade zwischen ufernahen Rüben- und Kartoffeläckern dahin. Dort aber, wo versuchsweise nicht gebaggert wurde und Pflanzen wie der Flutende Igelkolben im Wasser wachsen, verändert sich die Fließgeschwindigkeit. Und dort, wo der Fluß „ein wenig selbst am Ufer geknabbert hat“, ebenfalls. Kleine Erlen klammern sich an vorher kahlgeschorene Böschungen. „Die wachsen da eigentlich illegal“, sagt der Landschaftsplaner Michael Puseck und freut sich „auch über Kleinigkeiten“. Der Biologe Karsten Borggräfe setzt nach: Büsche und Bäume spenden Schatten. Im Schattenbereich kann der Fluß nicht völlig verkrauten, muß also nicht ständig gemäht werden. Außerdem fördere die Mäherei das Verkrauten durch Begünstigung schnellwachsender Arten. Also: links am Ufer Bäume, rechts im Wasser Flutender Igelkolben. Ergebnis: Der Fluß fließt, aber die Geschwindigkeit pendelt.
Und dann fliegt doch pfeilschnell ein Eisvogel vorbei, sitzt auf dem Weidezaun ein Neuntöter, als seien sie bestellt worden. Daß sich an der Wasserspielstelle des Fahrrad-Lehrpfades, an der Kinder planschen und Steine umdrehen können, ein Flußkrebs samt Brut eingefunden hat, ist fast zu schön: „Den habt ihr da reingesetzt?“ Nein, bestimmt nicht! Ob das vier Zentimeter lange Tier nun eine einheimische oder die diese verdrängende amerikanische Spezies ist, können die beiden Experten auch nicht auf den ersten Blick erkennen.
Nach Eisvogel und Flußkrebs kommt das Fischsterben. Kilometerweit treiben tote Fische aller Größen mit dem weißen Bauch nach oben, verfangen sich in Flußschleifen und Ufergestrüpp. Auch das ist nicht bestellt, sondern vorerst unbekannter Herkunft. Verdächtigt wird die Kläranlage in Wesendorf, denn oberhalb ihres Einleiters in die Ise ist kein toter Fisch zu finden, direkt an der Mündung aber dümpeln sie dicht an dicht in den Teichrosen. Die Kläranlage liegt idyllisch zwischen Feriensiedlung, Schießplatz und Mülldeponie. Die beiden Angestellten des privaten Betreibers sind freundlich, wollen aber ihre Meßwerte nicht nennen und verweisen auf den Landkreis, den sie „über leicht erhöhte Werte“ informiert haben. Sommerhitze plus „leicht erhöhte Werte“, das könnte den Fischen durchaus gereicht haben.
Die „Revitalisierung“ soll im Jahr 2000 auslaufen
Die „behutsame Revitalisierung der Ise“ soll nur wenige Baumaßnahmen erfordern. Ein abgetrennter Fischteich wird statt der verschwundenen Altarme wieder angebunden, die Staustufe an der Wassermühle Wahrenholz wird abgeflacht. Der Müller ist für sein Staurecht entschädigt worden, ein Förderverein möchte dort ein Museum einrichten. Das mit Wasseranalysen, Messungen und Artenzählungen wissenschaftlich begleitete Projekt endet im Jahr 2000. Ob die für Heidegewässer typischen Pflanzen und Tiere sich von selbst wieder einfinden, wird die Zeit weisen. Daß im Winter 1993 Otterspuren gesichtet wurden, stimmt bedingt optimistisch. Vermutlich ist der Hoffnungsträger des Naturschutzes aus dem Osten durchgereist. Die „Aktion Fischotter“ setzt darauf, daß, zumindest fischottermäßig, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen wieder zusammenwachsen.
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