: Das antisemitische Syndrom
■ „Sieg-Heil!“-Rufe, Steinwürfe, Drohungen: Wieder wurde am letzten Wochenende eine KZ-Gedenkstätte geschändet. Über vierzig Jahre lang schien antisemitisches Gedankengut in unserer Gesellschaft kaum existent. Jetzt taucht es nicht nur bei neonazistischen Gewalttätern wieder auf, sondern auch als aggressiv-rassistische Phantasien bei Menschen, die glaubten, längst Abstand von der faschistischen Vergangenheit ihrer Eltern gewonnen zu haben. Wie werden ideologische Muster über Generationen tradier? Hanna Gekle, Psychoanalytikerin am Sigmund-Freud- Institut, Frankfurt, über Herkunft und Ursachen des antisemitischen Syndroms
taz: Kaum ein Mensch in diesem Land gibt offen zu, Antisemit zu sein. Faschistisches Gedankengut – das ist angeblich das Problem der Eltern beziehungsweise Großeltern, die in der Nazizeit gelebt haben. Aber die Verhältnisse sind nicht so. Wie überleben rassistische und antisemitische Denkmuster die Generationen?
Hanna Gekle: Zum einen kann jemand bereits als Kind mit der offen antisemitischen Ideologie seiner Eltern konfrontiert worden sein. Das wäre eine direkte Tradierung. Die andere Variante ist, daß die Eltern die Erfahrungen des Faschismus nur unzureichend aufgearbeitet haben und diese auf eine latente, ihnen nicht bewußte Weise an ihre Kinder weitergegeben haben. In der Regel ist die Verlogenheit im Umgang mit dem Faschismus bis heute groß, so daß man mit einer Kombination dieser beiden psychischen Tradierungsmechanismen zu rechnen hat.
In mir steckt also automatisch eine potentielle Antisemitin, wenn meine Eltern ihre faschistischen Prägungen nicht ausreichend bearbeitet haben?
Nicht automatisch: Aber die Generation der Täter pflanzt sich sozusagen in den Lücken des Über-Ich fort. Gerade die Form der Tradierung zwischen den Generationen, die nicht bewußt und rational gesteuert ist, findet so früh statt, daß die Kinder sie weder bewußt wahrnehmen noch sich ausreichend dagegen wehren können. Sie erleben diesen Bereich als verboten und ausgegrenzt. Gerade dadurch wird er als besonders spannend aufgewertet, kann dann im Unbewußten abgelagert werden und von dort aus außerordentliche Anziehungskraft entfalten.
Woher weiß das Kind, daß es sich um etwas Verbotenes handelt?
In der Regel ist die Art, in der die Eltern darüber gesprochen haben, vom Verbot gezeichnet. Zum anderen ist es nicht so, daß die Kinder als Opfer nur etwas übernehmen, was die Eltern nicht bewältigen konnten. Sondern sie verbinden es mit eigenen aggressiven, feindseligen und sexuellen Impulsen. Und machen daraus ein besonderes Gemisch, das auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnitten ist.
Was macht ein Erwachsener mit diesem Erbe?
Ich habe Patienten erlebt, die sich als politisch links verstanden haben und trotzdem von antisemitischen und rassistischen Phantasien überrollt worden sind. Sie waren moralisch absolut empört über sich. „Ich bin kein Umgang für mich“, formulierte ein Patient. Deutlich wird daran, welch enge Grenzen der Aufklärung gesetzt sind. Diese Patienten wußten viel über den Faschismus, sie haben seine Greuel nicht geleugnet, sie sind zum Teil viele Jahre nach Krieg und Faschismus geboren. Und trotzdem hatten sie diese Phantasien.
Die sich wie äußerten?
In einer Sprache, die eines alten Nazis würdig gewesen wäre, in faschistischen Gewaltphantasien, in eigener latenter Gewaltbereitschaft, in einer verblüffend aktuellen Präsenz des gesamten Schreckensszenarios der Nazis – bei einer ihnen selbst unbewußten Identifizierung mit den Tätern.
Welchen Einfluß haben diese abgewehrten Phantasien auf die Lebenswirklichkeit?
Diese unbewußten Tradierungen haben eine besondere Wirkungsweise. Weil sie niemals rational waren, können sie auch nicht erinnert werden. Aber sie werden dargestellt – in Handlungen. Wo sonst die Möglichkeit der Erinnerung wäre, besteht hier ein Zwang zum Agieren.
Dieses Gewaltpotential ist politisch besonders gefährlich und bildet einen Sprengsatz größten Ausmaßes. Wenn es ein politisches Angebot von rechts gibt, das es erlaubt, solche Phantasien öffentlich darzustellen, dann werden Menschen, die unter ihrem Bann stehen, nur allzu oft – im Dienste der eigenen moralischen Entlastung – begierig danach greifen. Sind diese Phantasien gesellschaftlich akzeptiert, muß man sie nicht mehr alleine verantworten und leidet nicht mehr so stark unter ihnen. Da verbindet sich auf eine gefährliche Weise der Wunsch nach psychischer Entlastung mit der politischen Verführung zur Gewaltausübung.
Ich hatte bisher nicht den Eindruck, daß ein Mensch, der antisemitisches beziehungsweise rassistisches Gedankengut vertritt, moralisch besonders leidet.
Die Moral geht sonderbare Wege. Es kann jemand anscheinend unmoralisch sein aufgrund einer besonders rigiden Moral im Hintergrund; man kann aggressiv werden, weil man moralischen Druck nicht mehr aushält; und man kann natürlich auch aggressiv werden, weil man glaubt, man könne es sich straflos erlauben. Ich würde die rechtsradikale Klientel nicht unter ein Schema subsumieren.
Durch die Besonderheit des psychoanalytischen Zugangs können wir lernen, welche unterschiedlichen Bedürfnisse hier abgedeckt werden und welch verschlungene Wege psychische Entwicklungen nehmen. Das kann zu einer differenzierteren Betrachtung der Genese und Tradierung antisemitischer und rassistischer Phantasien beitragen.
Wenn jemand phantasiert, heißt es noch nicht, daß er Menschen anzündet.
Unter den Tätern gibt es natürlich auch welche, die relativ frei sind von diesen komplizierten psychischen Konflikten und offen aggressiv agieren. Diese Aggressivität hat dann völlig andere Quellen und ist ganz ohne Geheimnis. Aber für die Mehrheit der Mitläufer geht es nicht ohne Tribut der Tugend an das Laster. Es muß nicht nur eine moralische Entlastung in diesen Phantasien mitenthalten sein; die Moral fungiert als großartige Form narzißtischer Erhebung über die alltägliche Banalität und – last but not least – als Abwehr unbewußter grausamer Phantasien.
Haben Männer und Frauen die gleichen Phantasien?
Nein, nicht die gleichen. Ich fand auch bei Frauen antisemitische und rassistische Phantasien, aber nicht so wie bei Männern zu einem Syndrom verdichtet, das konstitutiv für ihre Psyche war. Bei den Männern ging es letztlich um eine Eliminierung alles Fremden. Es muß Harmonie in der Familie und der Nation herrschen. Daher muß alles Konflikthafte aggressiv ausgestoßen und auf die Fremden projiziert werden. Von dort kehrt es als äußere Bedrohung wieder. So basieren diese Phantasien auch auf einem pervertierten utopischen Gehalt.
Warum hauptsächlich bei Männern?
Es geht dabei auch immer um die Verleugnung der männlichen Homosexualität. Einerseits wurde im Faschismus das Pathos des Kriegers und das Pathos des Mannes zu neuen Ehren hochpoliert. Andererseits war die Frauenrolle sehr traditionell: offiziell idealisiert, de facto entwertet. Eine solche Kombination scheint besonders attraktiv für schwache Männer, die im Unbewußten an ihre Mutter gebunden bleiben und nun versuchen, auf eine aggressive Weise aus dieser dualen Beziehung herauszukommen.
Einerseits sehen Sie das Problem in den faschistischen Männerbünden, andererseits ist dann doch wieder die Mutter an allem schuld?
Als Schuld möchte ich das nicht verstanden wissen. Bei den Patienten, bei denen solche Phantasien eine konstitutive Rolle spielten – verbunden mit irrwitziger Aggressivität –, war eindeutig, daß sie von einer besonderen Beziehung zur Mutter nicht losgekommen sind. Ich fand in diesen Fällen den unbewußten Haß auf die Mutter dominant. Der kann natürlich ganz unterschiedliche Wurzeln haben. Er kann darin liegen, daß es Mütter sind, die ihre Kinder nicht freilassen. Er kann aber auch darin liegen, daß die Kinder zu wenig Fürsorge bekommen haben. Und solche Männer suchen dann in der Nation oder in einer Partei den Ersatz für eine gute Mutter. Wobei das abgespaltene Moment des Hasses in der Projektion auf die Fremden wiederkehrt.
Ist es zwingend, daß so ein aggressiv aufgeladener Mann auf antisemitische Inhalte zurückgreift? Oder liegt es daran, daß sich in Deutschland dieses Haßmuster historisch anbietet?
Natürlich nimmt man die Phantasien, die irgendwie zugänglich sind. Und diese haben eben nicht nur den bewußten Inhalt, sondern auch eine unbewußte Motivierung. In diesem Kontext spielt die Geschichte des Faschismus in Deutschland eine entscheidende Rolle: das schlechte Gewissen der Eltern, die mangelnde Aufarbeitung. Es ist ein Konstrukt, das bereitliegt und jederzeit wieder mit unbewußten Phantasien gefüllt werden kann.
Wir haben es hier mit einem sehr komplexen Zusammenspiel zwischen den individuellen psychischen Bedürfnissen, die ursprünglich gar nichts mit Antisemitismus zu tun haben müssen, und gesellschaftlich-ideologischen Angeboten zu tun.
Aber vierzig Jahre war einigermaßen Ruhe. Warum jetzt dieser Ausbruch?
Nach den Einsichten der Psychoanalyse sind die psychischen Umstrukturierungsprozesse weit langsamer als die bewußten Denkprozesse. Eltern erziehen ihre Kinder für den Alltag zwar nach der Maßgabe dessen, was ihnen bewußt zugänglich ist. Aber die moralischen Vorstellungen, die sie übertragen, stammen aus der Zeit ihrer eigenen Eltern. In den letzten Jahren hat man den Eindruck, daß die faschistischen Großväter und deren unaufgearbeitete Geschichte im Nachkriegsdeutschland zum ersten Male wieder eine konstitutive Rolle spielen: paradoxerweise im Leben ihrer Enkel.
Eine ihrer Kolleginnen hat einmal gesagt: Wir können nicht stolz sein auf unsere Väter, auch nicht auf unsere psychoanalytischen. Gemeint hat sie die unrühmliche Geschichte der deutschen Psychoanalyse während der Nazizeit, vor allem am Berliner Göring-Institut. Diese Geschichte ist in den psychoanalytischen Berufsverbänden bis heute gekennzeichnet durch Verdrängung und Verleugnung. Mit anderen Worten: Die psychoanalytischen Väter haben ihren Kindern dasselbe lastende Erbe aufgehalst wie die biologischen Väter.
Die Psychoanalytiker trifft dieser Vorwurf besonders hart, weil man von ihnen erwarten darf, daß sie über ein hohes Maß an Selbstreflexion verfügen, daß sie aufgrund der jüdischen Wurzeln ihrer Wissenschaft besonders sensibilisiert sein müßten und als Berufsstand eben nicht die gängigen Vorurteile und Selbstinterpretationen annehmen dürften. Sie müßten diese mindestens ebenso kritisch hinterfragen, wie sie es in ihrer alltäglichen klinischen Praxis mit den Phantasien ihrer Patienten tun.
Und wie soll dann ausgerechnet dieser Berufsstand antisemitisch infizierten Patienten therapeutisch helfen?
Die Verdrängungsleistungen sind auch in unserem Berufsstand ungeheuer hoch, und man wundert sich, welche Selbstrechtfertigungen immer wieder gebraucht werden. Andererseits hat es nach dem Krieg die Auseinandersetzung der Psychoanalytiker mit dem Faschismus permanent gegeben. Sie scheint allerdings nicht ausgereicht zu haben. Daß dieser Konflikt noch heute schwelt, gehört zu den Besonderheiten der Aufarbeitung von Faschismus und der ungeheuren moralischen Last. Ansonsten glaube ich, daß jeder nichtjüdische Deutsche – und Analytiker vorneweg – gut daran tut, skeptisch, sehr skeptisch gegen sich zu sein, und nicht davon ausgehen darf, dieses antisemitische Erbe sei in ihm abgestorben. Eine linke politische Orientierung reicht in keiner Weise, um davor gefeit zu sein.
Das Gespräch führte Bascha Mika.
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