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„Eine Wirtschaftsreform ist nötig“

■ Julio Carranza Valdés ist Vizedirektor des Zentrums für Amerikastudien in Havanna und ein profilierter Ökonom Kubas

taz: Mit der jetzigen Flüchtlingswelle hat die Krise Kubas einen neuen Tiefpunkt erreicht ...

Julio Carranza Valdés: Die Situation ist sehr schwierig, natürlich. Eine wirkliche Erholung der kubanischen Wirtschaft ist weder kurz- noch mittelfristig zu erwarten. Und das führt natürlich zu Unmut und auch Verzweiflung in der Bevölkerung. Die Menge der Auswanderungswilligen ist erheblich größer als die derjenigen, die das Land derzeit über das Meer verlassen. Der interne Konsens hat gelitten. Als 1980 über den Hafen von Mariel 125.000 Kubaner das Land verließen, gab es heftige Reaktionen gegen die, die gingen. Heute nicht. Aber damals hatten wir auch die achtziger Jahre vor uns, in denen es hier beträchtliches Wirtschaftswachstum gab. 1994 hingegen haben wir keine Sicherheit, daß die Situation 1995 oder 1996 besser sein wird als heute.

Fidel Castro hat in seiner Fernsehrede vor allem über die Politik der USA geredet. Müßte es nicht aber auch in Kuba selbst Veränderungen geben?

Es ist schwierig, die internationalen Rahmenbedingungen zu verändern. Wir können von uns aus nicht die Blockade der USA aufheben, den Weltmarktpreis für Zucker verbessern oder die Sowjetunion wiederauferstehen lassen. Das einzige, worüber wir selbst entscheiden können, ist unsere eigene Wirtschaftspolitik hier im Land. Und gerade deswegen ist eine tiefgreifende Reform notwendig. Die Wirtschaftskrise muß zu einer größeren Öffnung führen – einer wirtschaftlichen Öffnung, wohlgemerkt, denn es gibt keinen anderen Weg aus der Krise. Aber die aktuelle Flüchtlingssituation und die Konfrontation mit den USA haben auch dazu geführt, daß ökonomische Fragen erst einmal wieder an die zweite Stelle verdrängt wurden.

Nun hat es ja bestimmte Veränderungen in der Wirtschaftspolitik gegeben, die Öffnung für Joint- ventures mit Auslandskapital etwa oder die Legalisierung des US-Dollars im vergangenen Jahr.

Wenn man alle Veränderungen der letzten Jahre zusammenzählt, dann ist tatsächlich eine ganze Menge passiert. Das Problem ist aber, daß alle diese Schritte nicht Teil eines kohärenten Reformprojekts sind, sondern vielmehr einzelne Konzessionen ohne inneren Zusammenhang.

Zum Beispiel die Umwandlung der landwirtschaftlichen Staatsbetriebe in Kooperativen im vergangenen Jahr: Das bleibt auf halbem Weg stehen, solange es keinen Markt gibt, auf dem die Koperativbauern ihre Überschußproduktion verkaufen können. Und es ist möglich, daß bald eine Art von Bauernmärkten wiedereingeführt werden wird. Aber wenn das nicht Teil eines umfassenderen Projekts ist, werden die Bauern anfangen, ihre Produkte für Dollars zu verkaufen – und was machen dann die Leute, die keine Dollars haben?

Wie es in dieser Hinsicht weitergehen wird, weiß ich nicht. Wir arbeiten hier an der Konzeption einer umfassenden und tiefgreifenden Wirtschaftsreform. Aber es ist nicht klar, ob es auf der Ebene der politischen Führung im Augenblick genügend Bereitschaft dafür gibt.

Im Ausland wird Carlos Lage, der oberste Wirtschaftsverantwortliche der Regierung Castro, oft als „Reformer“ bezeichnet. Warum aber geht der Veränderungsprozeß so zäh vonstatten?

Ja, es müßte sehr energisch vorangehen, aber es geht alles sehr langsam. Auf der letzten Sitzung des Parlaments etwa wurde lediglich die Einführung des Steuersystems debattiert. Das ist meiner Meinung nach völlig unzureichend. Was Carlos Lage angeht: Er ist eine sehr offene Person, er kann zuhören, und er versteht auch viel. Aber auch er ist Teil der Staatsführung, und da greift eine politische Logik, die zu einem sehr vorsichtigen, schrittweisen Vorgehen führt. Es gibt dort einen, sagen wir: konservativen Sektor. Aber: Den gibt es auch in der Bevölkerung! Man darf ja nicht vergessen, daß Havanna nicht gleich Kuba ist. Hier in der Hauptstadt konzentrieren sich die gebildeten Schichten, hier sind die sozialen Differenzierungen und der Tourismus sehr gegenwärtig. Die Leute in Havanna reagieren auf die Versorgungsengpässe viel heftiger als in der Provinz. Es gibt Regionen, in denen es seit Monaten keine Seife mehr gegeben hat oder wo die Leute seit Monaten mit Holz kochen müssen, und nichts passiert. Hier in Havanna würde so etwas ein sehr ernstes Problem schaffen.

Der Schwarzmarktkurs des kubanischen Peso zum US-Dollar ist in den letzten Jahren rapide gefallen, von einer offiziellen 1:1-Parität auf inzwischen über 1:100. Die Regierung hat nun die „Sanierung der Staatsfinanzen“ auf die Tagesordnung gesetzt. Was müßte passieren, damit dies Erfolg hat?

Man ist dabei, das Haushaltsdefizit des Staates zu reduzieren, um den Wertverfall des Peso zu bremsen. Die Ausgaben für Sozialversicherung sowie Bildungs- und Gesundheitswesen machen insgesamt weniger als ein Drittel dieses Defizits aus. Der Löwenanteil, rund 70 Prozent, sind die Subventionen für defizitär arbeitende Staatsbetriebe. Im Dezember 1993 haben 69 Prozent aller Betriebe des Landes Verlust gemacht, mittlerweile dürften es noch ein paar mehr sein. Das heißt, diese defizitären Staatsbetriebe sind das Problem, das angegangen werden muß. Viele Betriebe davon werden geschlossen werden müssen. Und die Frage ist: Was macht man dann mit den Leuten, die arbeitslos werden?

Wie viele werden das sein?

Eine bis anderthalb Millionen Menschen können ihre Arbeit verlieren [bei einer Erwerbsbevölkerung von rund vier Millionen – Anm. d. R.]. Um das aufzufangen, muß die Wirtschaft diversifiziert werden, muß ein tragfähiger, legaler Kleingewerbesektor entstehen. Dafür ist eine Neudefinition der Wirtschaftspolitik nötig.

Im Moment existieren in Kuba zwei Währungen nebeneinander. Während der Peso immer weniger realen Wert hat, kann man für Dollars in den staatlichen Devisenläden all das kaufen, was sonst nicht erhältlich ist. Diese Spaltung hat zu Verbitterung in der Bevölkerung geführt. Bei den Unruhen am 5. August entlud sich der Zorn auch gegen Touristenhotels und Dollarshops. Wie kann diese Zweiteilung der Ökonomie überwunden werden?

Die dominierende Meinung in der Wirtschaftspolitik scheint zu sein, daß man eine konvertible kubanische Währung einführt, die den Dollar ersetzt. Daneben soll der bisherige kubanische Peso aber weiter existieren. Der Besitz von Dollars wäre dann zwar weiterhin legal, aber seine Zirkulation würde verboten. Damit würde jedoch die Zweiteilung des Marktes in Kuba bestehenbleiben. Und meiner Meinung nach muß gerade diese Fragmentierung aufgehoben werden. Dafür ist es unabdingbar, eine einzige kubanische Währung zu haben. Die brauchte dabei nicht frei konvertierbar zu sein. Der Staat könnte einen Wechselkurs festlegen, der allerdings ökonomisch realistisch sein müßte. Das wäre das Ende der Dollarshops. Interview: Bert Hoffmann

Siehe auch Seite 8

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