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Die Taubheit des Odysseus

Ob Wachs, Durchzug oder Gleichgültigkeit – es gibt viele Methoden, die Ohren zu verschließen. Denn Zuhören heißt, sich auszusetzen  ■ Von Christina Thürmer-Rohr

Zuhören drückt aus, daß andere mich etwas angehen. Es signalisiert Interesse an der Welt, Interesse an den anderen. Zuhören ist eine Metapher für die Offenheit, das Offenstehen der Person, die innere Gastfreundschaft. Wer zuhört, macht sich zugänglich und verwundbar, will von anderen wissen, ist von anderen beunruhigt und will anderen antworten. Zuhören widerspricht dem monologischen Bewußtsein. Es ist aktive Zuwendung und Irritation, kein bloßer Empfang. Wie ein Raum sich verändert, in den jemand eingetreten ist, läßt die Aufnahme des anderen die aufnehmende Person nicht als die gleiche zurück, die sie vorher war. Zuhören bedeutet Bejahung der anderen, Angewiesenheit auf ihre Existenz (...).

Die rezeptive Symbolik des Hörens, die es zum passiven, empfangenden und deswegen „weiblichen“ Verhalten macht, widerspricht einem Verhältnis zur Welt, wie es das Patriarchat der Moderne für das männliche Subjekt favorisiert hat: zugreifen, definieren, ordnen, erfinden, erobern.

Der „Grundtext der europäischen Zivilisation“ (Horkheimer/ Adorno), der Mythos von Odysseus, zeigt, daß demjenigen, der siegen und unbedingt als das bestehen will, was er ist, das Hören gefährlich wird. Taubheit und gefesseltes Hören sind die Bedingung, um die Siegeridentität zu erwerben und zu wahren. Dieser – ironische – Text, der die Entwicklung zumindest des aufgeklärten Mannes der Moderne vorwegnahm, ist eine Allegorie der herrschaftsorientierten und zugleich zwanghaften Identität, für die das Hören zum schlechthin feindlichen Element wird. Um dem Unfaßbaren, Unbeherrschbaren, Fremden zu widerstehen, muß Odysseus das Selbst des Herren schaffen und zusammenhalten, den „identischen, zweckgerichteten, männlichen Charakter“. Die Ruderer bekommen Wachs in die Ohren, um ohne Irritation ihre Arbeit zu tun und unbeeinträchtigt ans Ziel zu kommen. Odysseus läßt sich an den Mast binden, um sich zu zwingen, dem Gehörten nicht zu folgen. Und je mehr er hört, um so stärker muß er sich fesseln. Nur so bleibt das Gehörte folgenlos und antwortlos, nur so bleibt er Herr eines eingeschnürten Selbst, und nur so gibt er dessen Erweiterung und Auflösung keine Chance. So kann die mitgebrachte Identität überleben. Der Preis ist ein gepanzertes, abgeschottetes und verarmtes Individuum, das überlegen bleibt, sofern es sich vom anderen erfolgreich isolieren kann und seine Immunität beweist.

Der Typus einer undurchlässigen Herrschaftsidentität mit ihren Merkmalen der Hörunfähigkeit und Hörunwilligkeit gehört nun allerdings in einer postmodernen Gesellschaft der Vergangenheit an. Eine in sich und in der Kartographie sozialer Ordnungen ruhende und auf sich selbst beschränkte Identität ist mit der bösartigen Umkehrung eines vernünftigen Projekts – der Aufklärung –, mit der Abwesenheit bindender Maßstäbe und dem Schwinden universell gültiger Erwartungen unmöglich geworden. Die Lebensrealitäten widersetzen sich längst der festgefügten Vorstellung vom eigenen Standort und dem Verfolgen von Lebenslaufbahnen, in denen die Person ihr Ziel, ihren Weg und ihre Orientierungen kennen und planen kann.

Vor dem Hintergrund dieser sozialen und psychischen Destabilisierung ist heute von multiplen Identitäten die Rede. Gemeint sind Individuen als „offene Systeme“, „Bastelmentalitäten“, die verschiedenste Fragmente ihrer Person ohne permanente Verwirrung leben können. Von diesen mit „Patchwork-Identitäten“ ausgestatteten Individuen wird erwartet, daß sie sich den unterschiedlichsten Erfahrungen ohne Angst vor Selbstauflösung aussetzen können, weil sie das eigene Identitätsgewebe ständig verändern, ohne die Harmonie des Flickenteppichs ernsthaft zu gefährden. Die aufgeschlossenen Systeme könnten gelassen allem und jedem begegnen, könnten alles mit allem addieren, sich allen Winden und Schwingungen aussetzen, wären durch nichts zu erschüttern, weil alles zusammengestellt, nebeneinander getan und gearbeitet werden kann. Eine Beliebigkeit, die nicht gerade Vertrauen einflößt. Identitätssymptom eines „Zeitalter des und“ (Ulrich Beck).

Das Ohr scheint rehabilitiert. Das Gehörte wird zu einem großen Ensemble, und Hören fungiert nach dem Modell des Sehens. Wie die visuelle Inspektion mit ihrer Neigung zum ästhetisierenden Blick die Dinge zum Gemälde, die Stadt zum Stadtbild macht, werden die sozialen Unvereinbarkeiten zu bloßen Unterschieden, zur Modenschau der Vielfalt. Die Inspekteure laufen wie Flaneure oder Sensationstouristen in den Bildern herum, finden alle Differenzen interessant und bemerkenswert, die Welt wird zum Teppich der Unterschiede. Das Hören tut dann das gleiche wie das Sehen, es egalisiert das Unrecht. Das Ohr wird zu einem gleichgültigen Aufnahmeapparat, neutral-tolerant gegenüber der Herrschaftsförmigkeit der Realität, undurchlässig weniger im Sinne der Verhärtung als im Sinne der Indifferenz und zivilen Gleichgültigkeit (...).

Das oft postmodern vorgetragene Plädoyer für das „Ende der Identität“ ist offensichtlich häufig mit der Hoffnung verbunden, die Zeiger könnten auf Null gestellt und mit dem post könne auch ein Strich unter die eigene Geschichte gezogen werden. Durch historische Entsorgung, durch Ausradierung der eigenen Zugehörigkeit und durch Selbstverschwinden wären die Verantwortlichkeiten verwischt und niemand wäre fürs Gegenüber mehr eine Provokation. Ein Dialog braucht aber Menschen, die den Mut haben, sich zu positionieren, statt nichts oder jedenfalls nicht greifbar zu sein.

Die unspektakuläre Haltung des Zuhörens kann nicht als Postulat formuliert werden. Es ist die Frage nach der Existenzsuche der Individuen, die Frage nach dem erotischen Verhältnis zur Welt. Gemeint ist eine Haltung des „inter-esse“, was Leben im Sinne des „unter Menschen weilen“ heißt – mit Menschen zu tun haben, zwischen Menschen sein, zwischen Menschen handeln, Leben als politische Existenz verstehen. Und das Handeln, mit dem die Person sich ins Spiel und mit allen Risiken zum Vorschein bringt, ist nicht nur sprechendes Handeln. Ohne Zuhören bleibt das Sprechen leer. Und ohne Resonanz bleibt es bloße Selbstproduktion oder verzweifeltes Agitieren. Noch mehr als das Sprechen ist das Zuhören Ausdruck eines Interesses, mit dem das Individuum sich aussetzen will, um das eigene System zu überschreiten. Ein solches Interesse gibt Auskunft über ein Verhältnis zur Welt, das den gleichgültigen oder gelähmten Habitus des Zynischen oder Geschockten auf Dauer nicht erträgt.

Christina Thürmer-Rohr ist Professorin am Fachbereich Frauenforschung der TU Berlin. Der Text ist eine stark gekürzte Fassung ihres bisher unveröffentlichten Aufsatzes „Taube Ohren“. Mehr zum Thema erscheint im Oktober unter dem Titel „Verlorene Narrenfreiheit“ im Orlanda Verlag.

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