piwik no script img

■ Nach dem jüngsten politischen Mord in MexikoEin Déjà-vu-Erlebnis

Zweifellos hat Ruiz Massieu, der Generalsekretär der Regierungspartei PRI, nicht dasselbe politische Gewicht wie ihr ehemaliger Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio. Dennoch springen die Parallelen ins Auge: einige verblüffend unfähige Leibwächter; ein todesmutiger Attentäter, der bei seiner Festnahme gar keine oder wirre Angaben zu Personen und Beweggründen macht; ein Märtyrer; die landesweite Fassungslosigkeit; der entrüstete Ruf nach „Aufklärung“ und die Spekulationen über mörderische Machtkämpfe im Innern des Parteiapparates. Von einer Kolumbianisierung Mexikos zu sprechen wäre sicher verfrüht. Auch die Befürchtung, daß der allgemeine Schock sich demnächst in einen nationalen Ausnahmezustand verwandeln könnte, scheint (noch) unbegründet. Aber die offizielle Hoffnung auf eine Rückkehr zum business as usual, nach dem überraschend „friedlichen“ Verlauf der Präsidentschaftswahlen am vergangenen 21. August, hat sich endgültig zerschlagen. Natürlich hatte sich der Mythos von der mexikanischen Stabilität schon seit dem Mord an Kardinal Posadas vor eineinhalb Jahren in Guadalajara, spätestens aber seit dem zapatistischen Sylvesteraufstand, in Luft aufgelöst: die Vorstellung eines lateinamerikanischen Musterlandes ohne Guerilla, ohne Drogenmafia und ohne Terrorismus.

Wenn die Hintermänner des Todesschützen von Mexiko-Stadt tatsächlich die „Destabilisierung“ des Landes im Sinne gehabt haben sollen, einen besseren Moment hätten sie sich nicht aussuchen können. Die alte Staatsführung ist faktisch am Abdanken, ihre Nachfolger sind bis zum Amtsantritt von Zedillo am 1. Dezember formal noch nicht abgesegnet – ein gefährliches Machtvakuum also. Will die PRI-Regierung dennoch die gefürchtete Unregierbarkeit verhindern, so gerät sie in doppelten Zugzwang: einerseits will sie der polizeistaatlichen Untersuchung widerstehen und gleichzeitig alle Spuren minutiös verfolgen – auch bis in unliebsame Gefilde hinein. Die Hinweise des ehemaligen mexikanischen Drogenfahnders Eduardo del Valle, der in Washington kürzlich über Verbindungen zwischen hohen Regierungsfunktionären und den Drogenkartellen ausgesagt hatte, sind dabei wohl nicht länger zu ignorieren. Die Mär vom durchgeknallten Einzeltäter jedenfalls wird sich die Öffentlichkeit sicher nicht ein zweites Mal auftischen lassen.

Auch wenn man den PRI-Ideologen Ruiz Massieu nicht, wie mit Colosio geschehen, im nachhinein zum heimlichen Revolutionär hochstilisieren will: der alten Garde werden seine Pläne zur „notwendigen Erneuerung“ der Parteistrukturen nicht besonders behagt haben. Mexiko – so schreibt der Kolumnist Joel Ortega – „steht nach wie vor am Scheideweg: Demokratie oder Barbarei“. Anne Huffschmied

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen