: In Kreuzberg nichts Neues
■ Gespräch mit dem Architekten und Stadtplaner Wulf Eichstädt, der als Mitglied der Internationalen Bauausstellung Berlin (IBA) Stadterneuerungsprojekte in SO 36 betreute
taz: Rahmenthema der Intertaz sind diesmal „die Linken und die Ausländer“. Stadtviertel wie Hamburg-Altona oder Berlin- Kreuzberg erscheinen als Zonen der Berührung. Wie kam es dazu, daß sich in diesen einstigen Arbeiterbezirken viele Ausländer und zugleich Künstler, Aussteiger und Elemente der links-alternativen Szene angesiedelt haben?
Eichstädt: In Berlin setzte der Zuzug von Ausländern Ende der sechziger Jahre ein, später als in anderen westdeutschen Städten. Das Besondere in Berlin-Kreuzberg war, daß dieser Bezirk durch den Bau der beiden großen Trabantenstädte seine personelle Substanz verlor. Der Facharbeiter, der es sich leisten konnte, und die normale Arbeiterfamilie zogen nach Buckow-Rudow oder ins Märkische Viertel.
1967 in den Tagen der Studentenrevolte saß ich abends oft in Kreuzberger Kneipen am Kanal und hörte die Kommentare der Arbeiter über die „Studentenquerelen“. Damals lebte da noch eine klassische Arbeiterbevölkerung, und es gab keinen einzigen Ausländer. Durch das Wegziehen vieler Bewohner in die Trabantenstädte entstand ein Vakuum, in das dann relativ schnell die türkische Bevölkerung einzog. Anfang der siebziger Jahre sind wir mit großer Begeisterung nach Kreuzberg gefahren, um in den neuen griechischen und türkischen Kneipen die Speisen und die Gastfreundschaft zu genießen, die wir schon von unseren Reisen kannten.
Allerdings schlug die Stimmung schon bald bösartig um, und die Bevölkerung wurde zur Verschiebemasse in einem Sanierungsprozeß, der ab 1973/74 mit großer Macht einsetzte. Bekannt sind die Viertel um den Wassertorplatz, den Böcklerpark und die Naunynstraße, in denen die Wohnungsbaugesellschaften die Häuser räumten und die türkischen Familien konzentriert in weitere Abrißgebiete verschoben, so daß die Leute nirgendwo fest ansässig werden konnten. Dieser zynische Umgang mit Stadt und Menschen empörte immer breitere Kreise. Hinter der Sanierungsmaschinerie stand eine Politik, die im Wedding viel aggressiver betrieben wurde, nämlich die Türken gezielt rauszusanieren. Aber keiner legte sich Rechenschaft darüber ab, wo man sie denn hinsanierte.
Wie verhalten sich die verschiedenen Szenen in Kreuzberg zueinander?
Wir von der IBA-Stadterneuerung haben die Instandbesetzer stark unterstützt, weil sie erstens liebevoll mit den Häusern umgingen und zweitens tolerant waren gegenüber der ausländischen Bevölkerung. Diese Toleranz beruhte natürlich auch auf Sozialromantik und einer jugendlich-bürgerlichen Ethik, lebensgeschichtlich lag sie jedoch darin begründet, daß diese jungen Leute auf dem Arbeitsmarkt nicht mit Ausländern konkurrierten.
Ein Lebensmittelhändler aus der Wrangelstraße erlebte beispielsweise, daß ein türkischer Laden ihm die Kundschaft und damit die Existenz entzog. Von den türkischen Jugendlichen hieß es oft, sie seien aufgeweckter, disziplinierter und leistungsfähiger als die deutschen Underdogs aus kaputten Familien. An diesen Stellen begann, Haß zu wachsen. Nach und nach hat dann die Selektion einer Bevölkerung stattgefunden, die miteinander leben konnte.
Ich habe in dieser Zeit besonders die Cuvrystraße betreut. Das ist ein verschlungenes räumliches Ensemble mit Fabrikgebäude im Hinterhof, in dem die alternative Szene sitzt, und dazugehörigen Vorderhäusern, die fast ausschließlich von Türken bewohnt sind. Die Vorteile, die dort für die türkische Bevölkerung erstritten werden konnten, waren davon abhängig, daß die Instandbesetzer die Zerstörungsmaschinerie erst einmal lahmgelegt hatten. Insofern ist das eine nicht ohne das andere vorstellbar, auch wenn man jetzt wieder Demarkationslinien in den Häusern und in den Höfen gezogen hat. Aber es gibt keine wesentlichen Konflikte.
Man ißt Döner oder kauft im türkischen Laden Gemüse, aber lebt man nicht „miteinander unter sich“?
Völlig richtig, es gibt kaum Berührung. Aber es gibt da ein Phänomen, das meiner Meinung nach sehr wichtig ist. Die Türken haben ein politisches Vakuum entstehen lassen, weil sie kein Wahlrecht hatten und politisch nicht präsent waren. Etwa ein Drittel der Bevölkerung war bei politischen Entscheidungen gar nicht vertreten. Aufgrund dieses Vakuums konnten die Initiativen und die später etablierte AL überhaupt so einflußreich werden.
War das positiv oder negativ?
Um die spezifische Mischung und die Eigenart Kreuzbergs entstehen zu lassen, war das sicher positiv. Will man die Entwicklung Kreuzbergs insgesamt beurteilen, so sehe ich heute vieles sehr ambivalent, doch ich denke, es gab keinen anderen vernünftigen Weg. Ich möchte dieses Kreuzberg nicht missen, aber es strahlt ja nun seit vielen Jahren nichts Aktives mehr aus. Mitte der achtziger Jahre, als klar war, daß unsere Gesellschaft reich genug ist, Häuserfassaden bunt anzumalen und sanitäre Anlagen einzubauen, haben wir auch deutlich gemerkt, daß wir gescheitert sind. Nachdem die ersten großen Erfolge auf der Bauseite errungen waren, haben wir intensiv darum gestritten, daß nun das Projekt der sozialen Stabilisierung, also Hilfe für bessere Ausbildung und Arbeitsplätze, zum Tragen kommt. Aber die Bereitschaft der Politiker, das in größerem Umfang zu unterstützen, war gleich Null. Damit hat man die sozialen Verhältnisse gekriegt, die man jetzt hat, und die sind natürlich sehr schwierig.
Ein gutes Beispiel für das berührungslose Nebeneinander ist unser Verhältnis zum Islamismus. Dieses Phänomen hat von den deutschen Initiativen niemand begriffen, ich selbst eingeschlossen. Die türkischen Freunde, die sich an der Arbeit in Kreuzberg beteiligten, waren säkularisierte Türken aus akademischen Familien in Istanbul, die mit der anatolischen Gläubigkeit nichts anfangen können. Abgesehen von einer langen Diskussion über die Frage, ob auf dem Görlitzer Bahnhof eine Moschee gebaut werden darf, wo aber nicht klar war, wer das bezahlen soll, hat es nie eine kluge, nachdenkliche Diskussion gegeben, wo Religionskundige uns etwas gefragt oder erklärt haben und umgekehrt. Das ist für mich ein deutliches Zeichen, daß das Interesse füreinander im Grunde gering ist.
Woran ist der Dialog gescheitert?
Das soziale Nebeneinander bestand aus Abgrenzungen, die den anderen immer nur ganz reduziert wahrnahmen. Da sind viele Fragen offengeblieben. Ich habe oft die Artikulation eigener Interessen von türkischer Seite vermißt. Wir und die jungen türkischen Intellektuellen haben stellvertretend für die Türken gesprochen, aber zu einer legitimierten politischen Vertretung ist es nie gekommen. Um die hohe Arbeitslosigkeit unter türkischen Jugendlichen kümmert sich heute keiner. Anteilnahme ist ja auch unter Deutschen verschiedener sozialer Herkunft nicht vorhanden. Das neue Bürgertum von Kreuzberg interessiert sich nicht für die Underdogs.
Was hat Sie bewogen, Ihr Büro aus der Köpenicker Straße nach Wilmersdorf zu verlegen? Wohin zielen Ihre neueren Projekte?
Ich habe ja schon immer am Kurfürstendamm gewohnt. Nachdem ich mich über zehn Jahre nur mit Kreuzberg beschäftigt hatte, verspürte ich das Bedürfnis, mal wieder einen anderen Raum zu entdecken. Durch die Maueröffnung sind viele neue räumliche Fragen aufgetaucht. Das reicht von Entscheidungen über den Flugplatz Schönefeld bis zur Wiederbelebung der russischen Kasernen in Wünsdorf oder der großen Industrieareale in Eberswalde, Schwedt, Wittenberge. Da haben wir keine Patentrezepte und müssen völlig neue Strukturen aufbauen. In Kreuzberg hatten sich ritualisierte Formen eingeschliffen. Interview: Deniz Göktürk
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