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Ein Russe auf der Baustelle

Äußerlich cool, innerlich bebend und stets bereit zu großen Eruptionen. Aaron J. Gurjewitschs Porträt des Individuums im Mittelalter  ■ Von Hartmut Kugler

Die Buchreihe „Europa bauen“ verspricht ein mächtiges Unternehmen zu werden mit beachtlicher Breitenwirkung schon deswegen, weil ein paar Elefanten beteiligt sind, Elefanten der Buchproduktion wie der historischen Forschung. Voran der Gigant Jacques Le Goff. Er bevorwortet Bücher, die gleichzeitig in fünf verschiedenen Sprachen und fünf verschiedenen Verlagen erscheinen: auf französisch (Le Seuil), englisch (Blackwell), spanisch (Critica), italienisch (Laterza) und deutsch (C.H. Beck). Sie sollen „die entscheidenden Themen europäischer Geschichte“ behandeln und Bausteine einer „Universalgeschichte Europas“ sein. Eine Anzahl stattlicher Autoren hat bereits geliefert (unter anderen Leonardo Benevolo: „Stadt in der europäischen Geschichte“; Umberto Eco: „Die Suche nach der vollkommenen Sprache“; Mollat du Jourdin: „Europa und das Meer“). Andere drängen nach. Wer da mittun darf, ist zu einem Ritter der eurohistorischen Tafelrunde emporgeadelt. Le Goff, der gute König Artus, hatte bislang nur westliche Ritter gefunden. Soeben erst ist ein einsamer Ostler dazugekommen, der Moskauer Kulturhistoriker Aaron J. Gurjewitsch. Sein „Individuum im europäischen Mittelalter“ ist aus dem Russischen übersetzt. Im Unternehmen „Europa bauen“ kann Russisch nur eine Ausgangs-, keine Zielsprache sein; so will es der Weltmarktgeist.

Vor Jahrzehnten schon hatte Gurjewitsch „Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen“ publiziert, inzwischen ein Standardwerk. Im Westen war es lange benörgelt worden. Seine unverschämt gesamteuropäische Synthesenbildung erschien, aus der Isolation des Sowjetreiches herkommend, verdächtig. Jetzt mag gerade Gurjewitschs Fähigkeit der Thesen- und Synthesenbildung Le Goff zu seiner Einladung auf die europäische Baustelle bewogen haben. Mit Recht.

„Das Individuum ist unfaßbar“ – die salvatorische Klausel sagt gleich im ersten Kapitel, es könne nur um Näherungen gehen, um Entwürfe von Individualität, die selbstverständlich in den verschiedenen Zeiten und Zonen unterschiedlich ausgefallen seien. Seine „eigene“ Zone blendet Gurjewitsch leider gleich aus. Im Gebiet des alten Rus habe es kein Mittelalter und erst recht kein mittelalterliches Individuum gegeben. Immer nur Gruppen, immer nur Kollektive. Keine Quellen. Das ist schade. Sind die alten Verbindungen mit Byzanz, mit der griechischen Orthodoxie, mit den Kulturen des Mittleren und Fernen Ostens völlig spurenlos geblieben?

Gurjewitsch schaut, wie jeder gebildete Russe seit Peter I., westwärts. Das Paradigma eines voll verschriftlichten Individuums findet er hier bereits im Vormittelalter, beim karthagischen Bischof Augustinus (5. Jahrhundert); dessen „Confessiones“ seien durchs ganze Mittelalter hin unerreicht in ihrem Facettenreichtum, ihrer Nuanciertheit. Erst wieder Dante und Petrarca hätten ähnliche Reifegrade. Solche Eckpositionen lassen das Interesse am Buch erst einmal erlahmen. Es sind geläufige Richtmarken einer inzwischen abgegrasten Weide der Mentalitätenforschung. Man fürchtet, George Dubys vielbändige „Geschichte des privaten Lebens“ – Gurjewitsch nennt sie nicht, vielleicht kennt er sie nicht – habe das schon alles erledigt.

Doch Gurjewitsch hat frischen Weidegrund gefunden, die Predigten Bertholds von Regensburg, vor allem aber die altnordische Edda. Damit konnten die Protagonisten eines gewesteten Kerneuropa kaum rechnen. Just ein russischer Historiker schiebt die alten Germanen auf den Verhandlungstisch und liefert eine kulturtheoretische Begründung für die Norderweiterung der Europäischen Union.

Spannend ist Gurjewitschs Versuch, in Bertholds Predigten zwei Stimmen herauszuhören: im Vordergrund die von den Regeln der Predigt und des Aufschreibens modulierte Stimme des Gelehrten; im Hintergrund die Stimme des Homo illiteratus, des idiota, den der Prediger erreichen mußte, ein fremd vertrautes Organ mit einem Timbre von Eiszeit und Völkerwanderung. Herausragend das Kapitel über die „Epische Tradition“ der Sagas. Jene Individualität des mißtrauischen und wortkargen Einzelhofbewohners an den Nordmeerküsten wirkt atemberaubend modern. Äußerlich cool, innerlich bebend, zu großen Gesten und grausigen Eruptionen stets fähig – da zeigt sich ein eismeerkonserviertes Grundmuster, das durch sämtliche christlich-humanistischen Zivilisationsprozesse durchschlägt und im Metropolendickicht einfach wieder da ist, geschichtsresistent.

Gewiß enthält Gurjewitschs Buch noch die Spuren eines alten, langweiligen Denkens. Daß das „eigentliche“ Individuum erst erreicht sein soll, wenn es sich bei den kleinen Leuten identifizieren läßt, ist mechanisch gedacht. Die „Widerspiegelung“ geistert durch die Seiten. Manche andere lederne Wendung mag auf das Konto des Übersetzers gehen.

Doch nimmt das vom großen Atem des Buches nichts weg, mag sein Ertrag auch vorwiegend in Negationen bestehen: Das Individuum des europäischen Mittelalters war nicht der Ausgangspunkt einer linearen Entwicklung, schon gar nicht war es die primitive Vorstufe für einen Aufstieg zur freien Individualität, die in der Schönen Neuen Welt unseres 20.Jahrhunderts ihren Höhepunkt oder ihren postmodernen Zusammenbruch erleben würde. Jeder Mensch bastelt an seiner Individualität sein Leben lang, und am Ende ist er tot. Er fängt bei Null an und hört bei Null auf. Freilich wird er immer versuchen, sich einem dauerhaften Muster anzuverwandeln, sich nach vorgegebenen Traditionen oder Lebensformen auszurichten. Die Möglichkeiten dafür sind nicht immer und überall und nicht für jeden dieselben. Im Mittelalter waren sie anders, aber nicht prinzipiell unvergleichbar. Jede Epoche ist unmittelbar zum Individuum. Das macht die Lektüre des Buches spannend.

Aaron J. Gurjewitsch: „Das Individuum im europäischen Mittelalter“. Aus dem Russischen übersetzt von Erhard Glier. C. H. Beck Verlag, Reihe: „Europa bauen“, 341 Seiten, geb., 48 DM

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