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Hautnah am Bürger dran

Gesichter der Großstadt: Die frühere AL-Abgeordnete Hilde Schramm (58) leitet seit zwei Jahren die Regionale Arbeitsstelle für Ausländer (RAA) in Potsdam  ■ Von Elke Eckert

Politik wollte sie immer unkonventionell gestalten und hat damit sogar ihre eigenen Partei-KollegInnnen der Alternativen Liste geschockt. Am 25. Mai 1989 weigert Hilde Schramm sich als Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, die Sitzung mit den Mahnworten zur Wiedervereinigung zu eröffnen. Tumult im Abgeordnetenhaus, und Kanzler Kohl spricht von einem „politischen Skandal“.

Die Parteipolitik hat die 58jährige seit vier Jahren hinter sich gelassen, auch wenn sie sich vorstellen könnte, wieder zurückzukehren. Jetzt ist sie jedoch erst einmal „hautnah am Bürger dran“, wie sie es sich lange gewünscht hatte. Seit zwei Jahren leitet die „undogmatische Linke“, wie sie sich selbst gern bezeichnet, einen brandenburgischen Modellversuch gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Die Regionale Arbeitstelle für Ausländer (RAA) ist ein Bund-Länder-Modell. Sechs Außenstellen existieren neben der Hauptstelle in Potsdam bereits, weitere drei sollen dazukommen.

Mit Seminaren, Projektwochen in Schulen und unterschiedlichen Workshops versucht die Ost-West- Belegschaft, den grassierenden Rassismus und die Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen. Die Erziehungswissenschaftlerin und habilitierte Soziologin arbeitet selbst in zwei Projekten mit. Ihre Leitungsfunktion sieht sie eher gelassen: „Mir ist es wichtig, daß die Leute selbständig arbeiten.“ Und sie läßt sich auch nicht davon abhalten, sich in Einzelfälle einzumischen: Sie geht mit einem behinderten Kriegsflüchtling zum Arbeitsamt oder hilft zwei Geschwistern aus Bosnien, endlich einen Studienplatz in Brandenburg zu erhalten.

„Wir sind eine große Familie“, beschreibt sie ihren fast fünfzigköpfigen MitarbeiterInnenstamm. Wie auch in ihrer Hausgemeinschaft in Steglitz, in der sie seit 1968 mit Freunden wohnt, ist ihr in Potsdam die Zusammenarbeit mit vertrauten Menschen wichtig. „Ich muß Leute einschätzen können. Die Hälfte meiner Arbeit basiert darauf, daß ich mich auf die Mitarbeiter verlassen kann.“

Rückblickend lacht sie über die „Skandale“, die sie während ihrer einjährigen Amtszeit als Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses provoziert hatte. „Ich war befreit und heiter, als ich den ungeliebten Job endlich los war“, sagt sie heute. Die starre Hierarchie habe ihr wertvolle Zeit genommen, die sie lieber in „inhaltliche Politik“ stecken wollte. 1989 erhielt sie noch eine Bestätigung für ihre „etwas andere“ Auffassung von Politik: Kurz vor dem Fall der Mauer wurde die Wiedervereinigungsformel, die sie im Abgeordnetenhaus sprechen sollte, abgeschafft. Doch Schramm, die aus der Friedens- und Frauenbewegung kommt, fühlte sich weiterhin von „Formalismen und Ritualen“ ihres Amtes eingeengt. Zehn Monate später gab sie das Amt als Vizepräsidentin „mit Vergnügen zurück“. Es war zu einem weiteren Eklat gekommen, bei einer Sitzung hatte sie die Geschäftsordnung mißachtet und die Abgeordneten zu früh nach Hause geschickt.

Bereits 1985 bis 1987 war sie für die AL im Abgeordentenhaus, zuständig für den Bereich Wissenschaft und Forschung. Ihr zweites Debüt gab sie dann von 1989 bis 1990. „Ich bin eine überzeugte Anhängerin der Rotation, Berufspolitiker verlieren den Boden unter den Füßen.“ Bei sich selbst hat sie diese Entwicklung 1990 festgestellt. Sie wußte nicht mehr, wen sie vertrat. Am Schluß ihrer Amtszeit habe sie das Gefühl beschlichen, „den Faden verloren zu haben“. Zurück im bürgerlichen Leben, wollte sie „neue Erfahrungen“ sammeln. Sie kämpfte für den Erhalt von Studiengängen an der Humboldt-Universität und engagierte sich wieder in der Friedensbewegung. Zusammen mit ex-jugoslawischen Kriegsflüchtlingen organisierte sie Demonstrationen und gründete die „Initiative zur Unterstützung der Friedensbewegung im ehemaligen Jugoslawien“.

Eines ihrer Projekte, die Schramm nun selbst bei der RAA betreut, sind die „Lokalhistorischen Studien im Land Brandenburg zu 1945“. Rechtsextremismus, so Schramm, müsse auch im „historischen Zusammenhang“ gesehen werden. Ob ihre eigene Familiengeschichte – Hilde Schramm ist eine Tochter des NS-Rüstungsministers Albert Speer – dabei auch eine Rolle spiele? „Natürlich hat das, was man macht und was man tut, auch mit familiären Strukturen zu tun.“ Seit sie denken könne, habe sie sich mit der NS- Zeit beschäftigt. Für jemanden, der mit der NS-Zeit so direkt konfrontiert sei, gebe es nur zwei Möglichkeiten: „apologetisch werden oder sich damit auseinandersetzen“. Sie hat die letzte Lösung gewählt, „das ist besser, als alles in sich hineinzufressen“.

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