„Weil ich Schwule hasse“

Latente Homosexualität ist ein wichtiges Motiv für Gewalt gegen Schwule / Erste deutsche Täterstudie wurde gestern in Berlin vorgestellt  ■ Von Jeannette Goddar

„Det is Abschaum für mich, det geht gar nicht, so wat. Ick hab' ein gutes Verhältnis zu meinem Kumpel, aber trotzdem sind wir nicht schwul.“ Und weil das so ist, hat der 22jährige Ostberliner sich mit seinen Kumpels viele Nächte in einem Park in Friedrichshain um die Ohren geschlagen und Schwulen aufgelauert. Mindestens in acht Fällen hat er Schwule überfallen, ausgeraubt und niedergeschlagen. Über die Schwere der Verletzungen seiner Opfer weiß er nichts – er hat immer so lange zugetreten, bis der andere sich nicht mehr rührte, und ist dann abgehauen. Strafrechtlich verfolgt wurde er bisher nicht.

Der arbeitslose Friedrichshainer ist einer von neun Tätern, die Jens Uhle im Rahmen seiner von der Jugendverwaltung in Auftrag gegebenen Studie „Jugendgewalt gegen Schwule“ interviewt hat. Die Ergebnisse der eineinhalbjährigen Arbeit, der ersten deutschen Täterstudie zu antischwuler Gewalt, stellte er gemeinsam mit Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) gestern der Öffentlichkeit vor.

In offenen Interviews versuchte Uhle, sich Hintergrund und Motiven antischwuler Gewalt zu nähern. Auf seiner Suche nach Tätern, die er im Gefängnis oder zu Hause befragte, stieß er auf männliche Jugendliche aus Ost- wie Westberlin, die alle zur Tatzeit zwischen 14 und 19 Jahre alt waren. Insgesamt sollen diese neun in den vergangenen Jahren etwa 170 Schwule überfallen haben. Die Delikte reichen von leichter Körperverletzung bis zum Totschlag.

Wider Erwarten fand Uhle die These, daß Gewalt gegen Schwule überwiegend von Rechtsextremen ausgeübt wird, nicht bestätigt: Nur zweien attestierte er ein rechtsextremes Weltbild. Alle vier Westberliner Täter sind außerdem Kinder von Einwandererfamilien. Alle Jugendlichen erzählten, daß sie in Gruppen auf ihre Opfer losgehen. Dabei dient meist einer als „Lockvogel“: An Schwulentreffpunkten, oft draußen und im Dunkeln, bietet er sich als potentieller Sexpartner an. Wenn einer darauf eingeht, kommen die anderen und schlagen zu.

Auffällig ist, daß Schwule auch bei nicht-ideologisch motivierten Tätern beliebte Opfer sind: Acht der neun Befragten gaben unter anderem finanzielle Gründe als Motiv an. Schwule „hängen gut voll Kohle“ und wehren sich „ganz, ganz selten“, erklärte einer. Außerdem mißtrauen viele der Polizei und erstatten keine Anzeige. Auch bei den 200 Überfällen, die dem Überfalltelefon für schwule Opfer 1992 gemeldet wurden, geht Stahmer von einer Dunkelziffer von etwa 90 Prozent aus. Andere genannte Motive waren, der „Spaß“, sich an einem Wehrlosen auszulassen, das „Ventil für Frustrationen“. Drei der neun gaben an, auf Schwule loszugehen, weil diese Kinder verführten, sie anmachten oder, simpler, „weil ich Schwule hasse“.

Typisch sei eine sehr „ambivalente Einstellung zur Homosexualität“, erklärt Uhle. Die meisten, die auf Schwule losgingen, seien selber latent homosexuell und stammten aus Familien, in denen Homosexualität entweder totgeschwiegen oder verhaßt gewesen sei. Selbsthaß gegen eigene homosexuelle Neigungen führe dann zu Gewaltausbrüchen. Die meisten Täter gaben an, Schwule erfüllten das männliche Rollenbild nicht und gingen gleichzeitig von einem extrem traditionellen Rollenmuster vom „harten Mann“ und der „weichen Frau“ aus. Selber waren sie laut Uhle bemüht, betont männlich oder auch offen aggressiv aufzutreten.

Auch wenn viele der Motive denen der Gewalt gegen andere Minderheiten gleichen, appellierte Uhle an alle Schwulen, offensiver zu werden: „Solange das Risiko, ermittelt zu werden, so niedrig ist, wird nicht viel passieren.“ Stahmer sicherte zu, sich für einen Ausbau der Anlaufstellen für schwule Opfer einzusetzen. Diesen wird auch die Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit zufallen. Denn es hat sich kaum herumgesprochen, daß antischwule Gewalt in Berlin 1993 vier Todesopfer forderte.