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Konsequent und altmodisch

Die französische Tageszeitung „Le Monde“ feiert ihren 50.Geburtstag / Mit einem neuen Konzept ins nächste Jahr / Aber die Tradition bleibt gewahrt  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Draußen ist es noch dunkel, als Jean-Marie Colombani in seinem Büro im dritten Stock die Einstiegsfrage „Was gibt es für die eins?“ in die Runde wirft. Die 15 Herren und die eine Dame – RessortleiterInnen und Mitglieder der Chefredaktion der rennomierten französischen Tageszeitung Le Monde – stehen in einem großen Kreis. JedeR mit einem handgeschriebenen „Menü“ in der Hand, das die Textangebote enthält. Die Auslandsredaktion bietet einen Kommentar zu der neuen national-populistischen Regierung in der Slowakei an, die Kultur ein Dossier zum hundertsten Geburtstag des Kinos, die Meinung einen Beitrag des Philosophen Alain Finkielkraut über das Ende des Jahrhunderts und die Medienredaktion einen neuen Teil ihrer Serie über die großen Zeitungen der Welt. „Ausgezeichnete Texte“, lobt Chefredakteur Colombani die Serie, „die müssen wir unbedingt groß ankündigen.“

In einer knappen halben Stunde erörtert die Morgenkonferenz täglich um Viertel vor acht die Weltlage, und wie sie sich in der Zeitung spiegeln soll. Das Ritual ist so alt wie die Zeitung selbst: Seit heute nunmehr fünfzig Jahren findet die Konferenz im Stehen statt, sprechen ihre TeilnehmerInnen leise, fassen sich kurz und rauchen nicht. Die Regeln sind ungebrochen, obwohl die meisten MitarbeiterInnen längst jünger sind als ihre Zeitung.

Am Nachmittag des 18.Dezember 1944, einem Montag, erschien Le Monde zum ersten Mal. Die alliierte Landung in der Normandie lag sechs Monate zurück und landauf-landab lief die „Säuberung“ von tatsächlichen oder vermeintlichen KollaborateurInnen. Die alten Medien des Landes, die sich durch die Zusammenarbeit mit den Nazis diskreditiert hatten, waren eingestellt und beschlagnahmt. Staatschef General Charles de Gaulle persönlich hatte die Idee einer neuen, unverbrauchten Zeitung lanciert. Ein Regierungsblatt ist Le Monde trotzdem nicht geworden.

Im Gegenteil: Die Morgenkonferenz hat immer wieder Regierungen gegen sich aufgebracht. In den fünfziger Jahren beschloß die illustre Runde, ein Ende der Folterungen in Algerien zu fordern. Was folgte – und das insgesamt zwanzig Mal – war die Beschlagnahmung der Zeitung. Ein Jahrzehnt später diente Le Monde den StudentInnen des Pariser Mai als Forum. Im nächsten Jahrzehnt setzte die Zeitung ihre Kraft für einen Wahlsieg der Linken ein.

Doch als 1981 ein Sozialist französischer Präsident wurde, bekam das dem Blatt schlecht. Seine Auflage sank umso tiefer, je länger François Mitterrand im Elysée-Palast war. Ein Ende fand diese Entwicklung erst 1985, als die Morgenkonferenz von dem „Rainbow-Warrior-Skandal“ erfuhr. Die Veröffentlichungen über den französischen Geheimdienst, dessen Agenten das Greenpeace- Schiff versenkt hatten, mit dem die Umweltorganisation gegen die Atomtests im Pazifik protestiert hatte, führten zu einer Erholung der Auflage. Gleichzeitig verschlechterte sich das Verhältnis zum Elysée-Palast. JournalistInnen von Le Monde hörten dort immer häufiger den Satz: „Ihr Artikel von gestern hat nicht gefallen.“

Vor wenigen Wochen erreichten die Beziehungen einen neuen Tiefstand, als der Präsidentenpalast beschloß, statt der täglichen 120 Exemplare von Le Monde nur noch zwanzig Stück zu kaufen. Der Anlaß: Die Zeitung hatte ausführlich über die Vergangenheit von Mitterrand während des Kollaborationsregime von Vichy berichtet.

Le Monde, wie so viele andere Institutionen der französischen Republik, die in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag feiern, ist ein Produkt der Befreiung. In ihrer ersten Ausgabe versprach die damals zweiseitige Zeitung ihren LeserInnen so viel Wahrheit und Geschwindigkeit wie möglich und stellte sich in die Tradition der Résistance. Datiert war sie auf den nächsten Tag: den 19. Dezember 1944. Auch ein Ritual, das sich über die Jahrzehnte gehalten hat: Le Monde ist in Paris immer schon am Nachmittag vor dem Erscheinungsdatum an den Kiosken.

Ein halbes Jahrhundert lang blieben die Traditionen der ersten Stunde lebendig: Die nicht namentlich gezeichneten Kommentare der Redaktion auf Seite eins, die Essays von PolitikerInnen und Intellektuellen, die kaum von Zeichnungen und schon gar nicht von Fotos unterbrochenen Bleiwüsten. Le Monde konnte es sich leisten, konsequent altmodisch und konsequent schwerer Lesestoff zu sein: Sie begleitete alle Entwicklungen der französischen Nachkriegszeit, prägte Generationen von Führungskräften und fand journalistische NachahmerInnen in der ganzen Welt.

In den letzten Jahren ist das anders geworden. Die Zeitung liegt nur noch an der dritten Stelle der überregionalen Tageszeitungen – hinter dem Boulevardblatt Le Parisien und dem konservativen Le Figaro, der das Blatt erst kürzlich überholt hat. Mit den meisten anderen nationalen Blättern teilt es einen radikalen Schwund ihrer Auflage. In diesem Jahr verkaufte Le Monde nur noch 360.000 Exemplare täglich. „Die Zeitung hat ihre Spitzenauflage aus den späten 70er Jahren nicht wieder eingeholt, hat ungenügende eigene Fonds und eine Druckerei, die nicht ausgelastet ist“, beschreibt Chefredakteur Colombani die Misere. Allein 1994 erwirtschaftete Le Monde ein Defizit von 29 Millionen Franc (zirka 8,7 Millionen Mark); der zur Sanierung nötige Betrag wird auf ein Vielfaches geschätzt.

In dieser Situation fordert der Zeitgeist nun auch einen Tribut von Le Monde. Der 44jährige Colombani, der seinen Posten im Frühjahr mit dem Auftrag antrat, das Blatt zu sanieren, hat eine radikale Modernisierung zum 50.Geburtstag vorbereitet, mit der die Zeitung am 9.Januar an die Kioske gehen will.

Anne Chaussebourg, die seit Monaten an der Entwicklung des neuen Gesichts der Zeitung arbeitet, erläutert, wie die künftige Le Monde aussehen soll. „Sie wird mehr aus Unternehmen und von der Börse berichten – mehr Sport bringen, mehr Kultur, mehr angewandte Technologien, mehr Lebensformen und mehr Zeichnungen“, erklärt Chaussebourg. Eine Preiserhöhung der mit 7 Franc (zirka 2,10 Mark) ohnehin nicht billigen Zeitung soll es nicht geben.

Serviert wird die nouvelle formule in einem veränderten Layout, das Übersichtlichkeit und Ruhe in die verschachtelten Bleiwüsten von Le Monde bringen soll. Ein junger Graphiker hat einen völlig neuen Schrifttyp entwickelt, der tägliche Kommentar wird von Seite eins verschwinden und die vertikalen Linien sollen horizontalen Einteilungen weichen.

Die Modernisierung, mit der Le Monde ihre untreu gewordenen LeserInnen zurückholen will, soll von großen französischen Unternehmen finanziert werden. Zu diesem Zweck soll eine Aktiengesellschaft entstehen, in die die bisherigen Eigentümer übergehen sollen: die Redakteursgesellschaft, deren Sperrminorität fortbestehen soll, die Gründergesellschaft, die Lesergesellschaft und die Investoren aus der Wirtschaft. Diese rechtliche Struktur soll verhindern, daß die Großinvestoren Einfluß auf die redaktionelle Arbeit nehmen können. Die Zeiten allerdings stehen schlecht für Investitionen in die Printmedien. Das Konkurrenzblatt Libération, das vor ein paar Monaten ebenfalls eine nouvelle formule entwickelte, wartet immer noch auf die erhofften Millionen: Statt 200 Millionen Franc kamen bisher nur siebzig.

Die RedakteurInnen arbeiten seit 1989 in einem lichtdurchfluteten sechsstöckigen Redaktionsgebäude aus Glas und Metall an der Rue Falguière, im Windschatten des Montparnasse-Turms. JedeR hat sein eigenes Computerterminal, einen „Coyoten“ – auch diejenigen, die noch gelernt haben, ihre Artikel per Hand zu schreiben und dann einer Sekretärin zu diktieren.

Jacques-François Simon gehört zu jener Generation. Er fing 1960 bei Le Monde an, bekam einen „Paten“, der ihn anlernte, wurden dann Korrespondent in Algerien, arbeitete in der Chefredaktion, leitete die Zeitschrift Le Monde des Débats und kommt heute – als frischgebackener Ruheständler – immer noch täglich in die Redaktion. Wie die meisten seiner KollegInnen hat Simon nie ernsthaft erwogen, den Arbeitgeber zu wechseln. Wohin auch. Zwar sind die Löhne ein wenig niederiger, aber das Prestige und das Arbeitsklima von Le Monde gelten als besser als bei den anderen Medien, zumal den elektronischen. Die anderen Zeitungen interessieren eineN, der es geschafft hat, zu Le Monde zu kommen, kaum. Simon arbeitete schon bei Le Monde, als es noch üblich war, dem Chefredakteur die Braut vor der Hochzeit vorzustellen. „Jetzt sind Sie 50 Prozent weniger wert für uns“, hat er mir damals gesagt, erinnert der Redakteur sich an diese Episode.

Die Sitten eines überschaubaren Familienbetriebs sind verschwunden, aber die Anziehungskraft von Le Monde ist geblieben. Jenseits des glasüberdachten Lichthofs, im Redaktionssekretariat, bastelt Stephanie Noblet an den vier Politikseiten des Tages. Ihr Chef, der an der Morgenkonferenz teilnimmt, hat ihr eine Liste der Themen übergeben, die ins Blatt sollen. Die 24jährige Absolventin einer Journalistenschule muß nun die Texte plazieren. Fünf Anzeigen kommen heute auf ihre Seiten. Wie sie den restlichen Raum einteilt, welche Texte Aufmacher der einzelnen Seiten werden und welche nach unten rutschen, ist ihre Entscheidung. Erst wenn die RedakteurInnen ihre fertigen Texte abgeliefert haben, zeichnet sie ein Layout für ihre Seiten.

Bis 10.30 Uhr müssen alle Manuskripte bei Noblet angekommen sein, damit sie diese lesen und titeln kann. Vor ihr hat meist schon ein Chef sein Okay drüber geschrieben. Anschließend gehen die Manuskripte in die Fotokomposition, die Technik, wo sie zu einer ganzen Seite montiert und in die Druckerei übertragen werden.

Mit der nouvelle formule werden sich die Arbeitsabläufe in der Redaktion ändern. Künftig wird Noblet schon am frühen Morgen – vor 8 Uhr – das Layout für ihre Seiten zeichnen. Die RedakteurInnen und KorrespondentInnen müssen sich dann an klare Vorgaben halten.

Um 11 Uhr steigt Noblet einen Stock tiefer in die „Werkstatt“, wo sich regelmäßig eine kleine Menschenmenge um die Computer versammelt, an denen die Seiten montiert werden: vom Chefredakteur bis zum Drucker. In dieser Stunde wird der letzte Feinschliff an der Zeitung dieses Nachmittags gemacht. Auf den allerletzten Drücker kommt der Kommentar für Seite eins über die neue Regierung in der Slowakei an. Punkt 12 Uhr beginnt die Seitenübertragung in die Druckerei nach Ivry, wo um 13 Uhr die ersten Exemplare auf die wartenden Laster gehievt werden.

Ab Januar wird sich die Produktion eine Stunde weiter vorverlagern. Denn Le Monde soll künftig schon vor dem Mittagessen an die Kioske kommen. Während andere Zeitungen immer kürzere Artikel, immer mehr Grafiken, Farben und Fotos haben, um immer schneller lesbar zu sein, besteht Le Monde auf dem alten intellektuellen Schwergewicht.

Vor allem aber will sich Le Monde die journalistische Unabhängigkeit erhalten. Den Vorwurf, die Großinvestoren würden irgendwann doch Einfluß auf sein Blatt nehmen, weist Chefredakteur Colombani kategorisch zurück. „Das ist skandalös und eine Gemeinheit“, hat er seinen KollegInnen am Ende der Morgenkonferenz mit in den Tag gegeben. „Es würde mich nicht wundern, wenn der Elysée-Palast hinter diesen Vorwürfen steckte.“

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