■ Was uns die Invasion in Tschetschenien angeht: Weit, weit droben im Kaukasus
Die Regierungen des Westens, voran die der Vereinigten Staaten, haben auf die Invasion Tschetscheniens durch die russische Armee mit einer Art unbehaglichem Einverständnis reagiert. Warren Christopher ließ verlauten, Boris Jelzin habe „möglicherweise das getan hat, was getan werden muß“. Und indem er das Unvermeidliche tat, hat Rußlands Präsident, so Christopher, „sich die größtmögliche Zurückhaltung auferlegt“. Zu dieser angesichts der wahllosen Bombardierung Grosnys ziemlich großzügigen Interpretation der Fakten kam die Führungsmacht des Westens, weil sie vor allem an stabilen Verhältnissen in Rußland interessiert ist. Indem die tschetschenischen „Ereignisse“ zur innerrussischen Angelegenheit erklärt werden, hofft man auf ein schnelles Ende der Affäre. Schließlich gilt nach wie vor das Prinzip der Nichteinmischung, und Tschetschenien ist außerdem nichts als eine „kriminelle Freihandelszone“ (so das zustimmend übernommene Urteil des stellvertretenden russischen Premiers Boris Schachrai).
Will man solche Lageeinschätzungen kritisieren, so reicht es nicht aus, auf die Gefahr eines „Flächenbrands“ im nördlichen Kaukasus, auf einen möglichen langwierigen Partisanenkrieg gegen die russischen Besatzer, auf die Einmischung religiös-fundamentalistischer Staaten etc. zu verweisen. All diese Szenarien sind nicht aus der Luft gegriffen, verstellen aber den Blick auf das eigentliche Problem: Wer bestimmt eigentlich in Rußland über den Einsatz bewaffneter Gewalt, und welche Rückschlüsse erlaubt das tschetschenische Abenteuer auf die künftige russische Politik sowohl dem „nahen Ausland“ als auch dem Westen gegenüber? Also die bange Frage nach Verläßlichkeit und Berechenbarkeit.
Zu den deprimierendsten Schlußfolgerungen, die sich aufdrängen, zählt, daß es offensichtlich nicht die „zivilen“ Gestalten im Umkreis Jelzins waren, die die Panzer in Bewegung setzten, sondern ein innerer Führungskreis aus den drei „Ministerien der Macht“ (Armee, Inneres, Geheimdienste). Auch jetzt erfährt man seitens derer, die eigentlich für die Entscheidungsfindung Jelzins verantwortlich sind, etwa die Mitglieder des Präsidentschaftsrats, nichts, was den Namen Lagebeurteilung verdient. Daraus kann geschlossen werden, daß für den Fall der Besetzung Grosnys und der Installierung eines Militärregimes in der russischen Führung keinerlei Pläne existieren, wie man das „Problem“ Tschetschenien auf friedlichem, auf Verhandlungswege lösen will.
Die Politik des Moskauer Zentrums gegenüber den nichtrussischen Mitgliedern der Rußländischen Föderation, aber auch gegenüber den Staaten des „nahen Auslands“ steht nach wie vor unter paternalistischen Vorzeichen. Sie gibt sich keine Rechenschaft darüber, was der französische Orientalist Olivier Roy als die „neue Territorialisierung der Politik“ in den Nachfolgestaaten der GUS, aber auch in den nichtrussischen Gebieten der Föderation genannt hat. Es geht um den Prozeß der politischen Elitenbildung auf Gebieten, deren Grenzen einstmals künstlich und nach dem Grundsatz von „teile und herrsche“ gezogen worden waren. Diese Eliten forcieren eine vor allem sprachlich begründete „Identität“, sie sind dabei, ihrer Herrschaft die nötige Klassenbasis zu verschaffen.
Auf diesen Prozeß müßte eine „zivile“ russische Politik mit den Mitteln der ökonomischen Verklammerung, der kulturellen Einflußnahme und des politischen Kompromisses reagieren. Es gibt in der russischen Führung Kräfte, die die als legitim erachtete „Primus inter pares“-Rolle Rußlands in der GUS mit ebendiesen Mitteln durchsetzen wollen. Aber selbst sie zögern, wenn es um weitergehende autonome Rechte der Republiken innerhalb Rußlands selbst geht. Was jetzt in Tschetschenien geschieht, rechtfertigt düstere Ahnungen über die gesamte zukünftige Außenpolitik des Landes. Christian Semler
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