: Multikulti an der Memel
Eine Wegweiser zur Kultur der Vielvölkerlandschaft des Baltikums, der allerdings die Gegenwart etwas zu kurz kommen läßt. Eine Besprechung von Vera Dohrns Buch „Baltische Reise“ ■ Von Michael Bienert
„Von der Maas bis an die Memel“ reicht die an deutschen Stammtischen besungene Heimat, aber wer weiß noch genau, wo das lag: Memelland? Für die Linke ist die deutsche Geschichte im Baltikum passé, und so bleibt sie den Vertriebenen und konservativen Historikern zur nostalgischen Verklärung überlassen. Dabei ist die Geschichte dieser Vielvölkerlandschaft ein Lehrstück über die Schwierigkeiten multikulturellen Miteinanders und angesichts der neuen Nationalismen im Osten Europas von geradezu brennender Aktualität.
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten im Baltikum Deutsche als (privilegierte) Minderheit neben Esten, Letten, Litauern, Russen, Weißrussen, Polen, Juden, Schweden und Finnen. Unter russischer, polnischer, schwedischer und deutscher Fremdherrschaft bildeten sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Allianzen zwischen den Volksgruppen. Zu einer Verschmelzung oder Symbiose kam es nicht. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden die demokratischen Nationalstaaten Estland, Lettland und Litauen, die den Minderheiten vorübergehend Kulturautonomie gewährten – ein Modell, das scheiterte, noch ehe Nazideutschland und die Sowjetunion ins Baltikum einmarschierten.
Besonders die brutale Bevölkerungspolitik der Sowjetunion lastet als schwere Hypothek auf der seit 1990 wiedergewonnenen Unabhängigkeit der baltischen Staaten. So sind etwa die Esten infolge der Deportationen und der systematischen Russifizierung heute eine Minderheit im ,eigenen‘ Land. Der Bevölkerungsmehrheit, vor allem Russen, werden die vollen staatsbürgerlichen Rechte vorenthalten. Wenn sie sie wahrnehmen wollen, müssen sie sich erst einer demütigenden Einbürgerungsprozedur unterziehen. Auch sonst haben die Russen in den baltischen Staaten unter der Diskriminierung zu leiden, mit der sich der nationalbewußte Teil der Bevölkerung für die frühere Unterdrückung rächt. Das schürt neuen Haß, und es beschwört außenpolitische Konflikte mit Rußland herauf, das sich für die Landsleute in den verlorengegangenen Sowjetrepubliken stark macht. Mit ihrem Buch „Reise durch Galizien“ (1991) hat sich die Historikerin und Slawistin Verena Dohrn einen Ruf als außergewöhnlich kundige Wiederentdeckerin einer versunkenen Kulturlandschaft erworben. Auch auf ihre „Baltische Reise“ hat sie sich durch ein exzessives Studium historischer und literarischer Quellen, durch Gespräche mit Vertriebenen und Überlebenden vorbereitet. Das läßt sie andere Wege beschreiten als die konservativen Nostalgietouristen, führt aber bisweilen dazu, daß die Schilderung der gegenwärtigen Situation unter der Beschwörung des Vergangenen zu kurz kommt.
Die kulturhistorischen Verbindungslinien, denen die Reisende nachforscht, führen nach Berlin und Weimar, nach Moskau und Paris und seit dem Holocaust in die USA und Israel. Die jungen Philosophen Herder und Hamann wurden im 18. Jahrhundert vom baltischen Sprach- und Völkergemisch inspiriert, und von Hartknochs Verlag in der Universitätsstadt Riga gingen Kants Werke in dieWelt.
Zu denen, die im Baltikum aufwuchsen, gehören die Dichter Mickiewicz und Mandelstam, der Regisseur Sergej Eisenstein, der Naziideologe Alfred Rosenberg, der Geiger Jascha Heifetz und der Philosoph Emmanuel Levinas. Im estnischen Tartu lehrte der im vergangenen Jahr verstorbene Semiotiker Jurij Lotman. An der Peripherie des Sowjetreiches begründete er einen westlich orientierten Zweig der Literaturwissenschaft, der auch jenseits des Eisernen Vorhangs rezipiert wurde. Allein diese und zahllose andere (bibliographisch ergänzte) Hinweise machen Verena Dohrns Buch zu einer unentbehrlichen Hilfe für alle, die sich über die Kultur der Region informieren wollen.
Der rote Faden, dem die Autorin folgt, ist die Geschichte der Juden im Baltikum. Diese Fokussierung hat den Vorzug, daß wir die Kultur der baltischen Länder aus der Sicht einer stets gefährdeten Minderheit kennenlernen und von ihrer schwärzesten Seite, dem Holocaust. Der Nachteil besteht darin, daß die Autorin das, was ihr wichtig ist, meist aus dem Zettelkasten herbeizitieren muß – denn die Synagogen, jüdischen Handelsplätze, Ghettos, Erschießungsplätze und Friedhöfe sind nur in den seltensten Fällen noch kenntlich. So lebt dieser Reisebericht weniger vom Beschreiben, denn vom Anschreiben gegen die vorgefundene Realität. Verena Dohrns Suche nach verwischten, vernichteten, preisgegebenen Spuren, ihre Anstrengung, das Ausgelöschte doch noch zu verorten, ist ein später, aber nicht verspäteter Akt des Widerstands: gegen die Politik der Nazis und Sowjets, die immer noch nachwirkt, und wohl auch gegen die Selektionsprozesse nationalbewußter Historikerkollegen.
Wie wenig vergangen die Vergangenheit wirklich ist, erzählen nicht die Steine, sondern die Menschen. Wo die Autorin von ihren Begegnungen im Baltikum berichtet, schließt sich die Lücke zwischen ihrem Geschichtsbewußtsein und der geschilderten Gegenwart. Am schönsten gelingt das in ihrem Kapitel über einen Abstecher an die Memel. Auf der Suche nach Lebensspuren des Dichters Johannes Bobrowski trifft sie eine 83jährige Bäuerin, die sich sofort erinnert, wo das Haus seiner Familie stand. Sie erzählt, wie die Nazipropaganda das Zusammenleben der Völker in ihrem Dorf restlos vergiftete. Als Deutsche kam sie unbehelligt über die Kriegsjahre. Zur Strafe wurde sie von den Sowjets dann nach Sibirien verschleppt.
Es gibt im ganzen Baltikum wohl keinen Menschen, der nicht früher oder später zum Objekt eines wie auch immer gearteten Rassenhasses und staatlicher Gewaltmaßnahmen geworden wäre und Schaden gelitten hat. Das ist die Moral der Geschichte, der Verena Dohrn im Baltikum nachgereist ist: Wenn es nicht gelingt, den Widerstreit nationalistischer Ideologien zu entschärfen, wird es am Ende wieder nur Opfer auf allen Seiten geben.
Verena Dohrn: „Baltische Reise. Vielvölkerlandschaft des alten Europa“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1994, 284 Seiten, 29 Abb.,
36 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen