: Jeder eroberte Bordstein ein neuer Sieg
■ Zentimeterweise Einnahme der tschetschenischen Hauptstadt Grosny durch die russischen Elite-Einheiten / Duma gegen Beschränkung russischer Militäreinsätze
Grosny/Moskau (AFP/taz) – Die russischen Truppen im Zentrum von Grosny sind gestern ein bißchen weiter vorgerückt. Durch pausenlosen Raketen- und Granatenbeschuß von Artillerie, Kampfbombern und Hubschraubern gelang es ihnen nach eigenen Angaben, die tschetschenischen Kämpfer im Stadtzentrum – die nach vorherigen russischen Angaben bereits längst isoliert worden waren – weitgehend zu isolieren. Allein im Minutka-Platz im Süden der Stadt schlugen gestern vormittag etwa 40 Raketen ein. Der Platz diente den tschetschenischen Einheiten in den vergangenen Tagen als Sammelpunkt. Dennoch wurde offenbar niemand verletzt, da zahlreiche Menschen sich rechtzeitig in Keller zurückziehen konnten. Zivilisten rannten um ihr Leben, um sich mit Wasser und Lebensmitteln zu versorgen.
Wie bereits öfters in den vergangenen Wochen kündigten hohe russische Offiziere die unmittelbar bevorstehende Einnahme Grosnys am Freitag oder Samstag an. Wieder einmal wurden auch starke zusätzliche Panzerverbände an der Front erwartet.
In der Staatsduma in Moskau, dem Unterhaus des russischen Parlaments, scheiterten die Reformparteien mit dem Versuch, den Einsatz der Streitkräfte in innenpolitischen Konflikten zu verbieten. Nur 172 der 450 Abgeordneten stimmten für den von der Reformpartei „Rußlands Wahl“ eingebrachten Antrag. Die Abstimmung erfolgte am dritten und letzten Tag der Sondersitzung des Parlaments über den Krieg in Tschetschenien. Der Antrag sah vor, daß russische Streitkräfte innerhalb der Russischen Föderation nur dann eingesetzt werden dürften, wenn die äußere Sicherheit des Landes bedroht sei. Bei den weiteren Anträgen, über die am Nachmittag die Abstimmungen beginnen sollten, geht es um ein Vetorecht des Parlaments gegen Militäraktionen sowie um Kürzungen im Verteidigungshaushalt. Begrüßt wurde das Vorgehen der russischen Truppen während der kontrovers geführten Debatte allein von der rechtsextremen Liberaldemokratischen Partei Wladimir Schirinowskis. Im Oberhaus des Parlaments, dem Föderationsrat, wurde unterdessen ein Antrag auf sofortige Einstellung der Kampfhandlungen in Tschetschenien vorbereitet.
Unterdessen telefonierte Bundeskanzler Helmut Kohl gestern schon wieder mit dem russischen Präsidenten Boris Jelzin über den Krieg in Tschetschenien. Das Telefonat sei auf Kohls eigene Initiative zustandegekommen, teilte ein Regierungssprecher in Bonn mit. Kohl habe sich „über das geplante weitere Vorgehen“ Rußlands informieren lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen