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■ Die PolInnen stellen die zweitgrößte nationale Minderheit in Berlin. Gestern präsentierte die Ausländerbeauftragte Barbara John die Ergebnisse einer Meinungsumfrage unter ihnen. Gefragt wurden allerdings nur...Das dritte polnische Berlin

Die PolInnen stellen die zweitgrößte nationale Minderheit in Berlin. Gestern präsentierte die Ausländerbeauftragte

Barbara John die Ergebnisse einer Meinungsumfrage unter ihnen. Gefragt wurden allerdings nur die offiziell Gemeldeten.

Das dritte polnische Berlin

Berlin, Hauptbahnhof, 19. Januar, 16 Uhr 34. Abfahrt des Euro- City „Berolina“ nach Warschau. In den funkelnagelneuen Waggons der polnischen Staatsbahnen stapeln sich keine Kisten mehr mit Elektronika, heftige Debatten um Sitzplätze sind ebenfalls passe. In den Zuggesprächen ist der früher allgegenwärtige Preisvergleich zwar nicht gänzlich verschwunden, hat sich aber internationalisiert. Neue Orte kommen ins Spiel: Mallorca, Barcelona, Istambul – nicht nur als Handels-, sondern zunehmend als Urlaubsplätze. Nestbeschmutzerische Konversationen sind nach wie vor obligatorisch – aber die Verzweiflung und der wilde Zorn der 80er Jahre sind längst verraucht. Mit einem Wort: Normalität breitet sich aus.

Nur wer Staatsbürger der Mehrheitsnation ist, kann Angehöriger einer nationalen Minderheit sein. Folgte man dieser juristischen Definition, es gäbe keine polnische Minderheit in Berlin. Tatsächlich aber leben hier rund 30.000 PolInnen mit ständigem Wohnsitz. Dazu kommt eine schwer einschätzbare Zahl von permanenten „Touristen“. Wieviele der Spätaussiedler lediglich die Vorteile des „Civis germanicus sum“ einheimsen wollten, sich aber nach Sprache und Kultur weiterhin als Polen verstehen, ist noch schwerer bestimmbar. Nimmt man alle genannten Gruppen zusammen, so kommt man auf 80 bis 100.000 Menschen. Aber gemessen an der öffentlichen Präsenz der Türken sind die in Berlin lebenden Polen heute fast unsichtbar. Längst hat der Polenmarkt am Reichpietschufer, um den herum sich Ende der 80er Jahre der gewöhnliche westberliner Rassismus metastasenförmig verbreitete, dichtgemacht. Heute kann man Polen in größerer Zahl anläßlich der Sonntagsmessen, etwa in der Tempelhofer polnischen Kirche, beisammen sehen, viele der Intellektuellen trifft man im polnischen Kulturzentrum, wenn eine Berühmtheit wie Adam Michnik zu Gast ist. Die soziale Zusammensetzung? Offenbar jede Menge Geschäftsleute, von denen die wenigsten, rund 60, im „Klub der Kaufleute“ organisiert sind. Eine kleine Zahl von Spezialisten sind als Restauratoren um die berlin-brandenburgischen Schlösser bemüht, legale Vertragsarbeiter in der Baubranche sind nach Blüms restriktivem Erlaß rar, dafür boomt im Bausektor der Sklavenhandel. Wieviele gutbetuchte deutsche Zwischenschichtler machen von den Diensten polnischer „Putzen“ Gebrauch, wieviele lassen ihre Wohnungen von polnischen Intellektuellen renovieren? Die taz-Leser wissen es.

Zahlreiche Vereine ereichen nur ein kleines polnisches Publikum. Die hier lebenden Polen sind individualisiert, vom Kollektiv haben sie in der Regel genug. Das unterscheidet das heutige, das entstehende „dritte polnische Berlin“ von seinen Vorgängern im 19. Jahrhundert und in der Zeit zwischen den Kriegen. Berlin teilte die Polenbegeisterung des Vormärz, die „große Emigration“ Richtung Frankreich machte hier Zwischenquartier. Noch in den Werken des Preußen Fontane ist die „slawische“ Verführung spürbar, man spürt keinen Hauch imperialistischer Anmaßung gegenüber den Polen. Das kam später, im Berlin des Wilhelminismus. 1910 zählte man hier einschließlich der später aufgesogenen Vorstädte 80.000 Menschen polnischer Zunge. Bildungseinrichtungen, Zeitungen, Klubs von rechtsnationalistischer bis zur sozialistischen Couleur umspannten die Minderheit, die sich vor allem in den Arbeiterbezirken konzentrierte. Nach 1918, als die meisten Intellektuellen ins wiedererrichtete Polen zurückgingen, proletarisierte sich die Minderheit zusehends, behielt aber auch im „zweiten polnischen Berlin“ der Zwischenkriegszeit ihr dichtes, katholisch geprägtes Vereinsleben bei. Selbst unter den Nazis konnten sich der „Dziennik Berlinski“ ebenso der Gleichschaltung entziehen wie der Schulverein Oswiata oder die polnische Bank. Erst der Überfall der Nazis machte den polnischen Einrichtungen ein Ende und vernichtete das „zweite polnische Berlin“.

Die Geburtsstunde des „dritten Polen“ in Berlin schlug zur Solidarność-Zeit gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten und unter zwei ziemlich verschiedenen Vorzeichen. Um das ostberliner Kaufhaus „Centrum“ am Alexanderplatz grassierte 1980 die Furcht vor den „Polacken, die uns die Haare vom Kopf fressen“. Unterm Stern des Vorurteils waren sich Regierende und Regierte in der DDR zum ersten Mal einig. In Westberlin hingegen gingen 1981 nach der Verhängung des Kriegszustands die Wogen der Solidarität hoch. Flüchtlinge aus Polen wurden auf unbestimmte Dauer geduldet. Die ihr Land in den frühen 80er Jahren verließen, bilden heute den Kern der Minderheit. Sie haben die Gefühlskurve von der Begeisterung des Jahres 81 bis zum rassistischen Massenunmut rund um die Kantstraße zehn Jahre später durchlebt. Nach einer Phase der Anpassung um jeden Preis sind sie jetzt dabei, nüchtern und ohne viel Aufhebens, ihre Rechte als Bewohner des dritten polnischen Berlin einzufordern Christian Semler

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