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Die Barbarei trägt einen Namen

Seitdem die russische Luftwaffe immer öfter Dörfer im Kaukasus bombardiert, ist für die Tschetschenen klar: Moskau will ihr Volk vernichten / Doch nicht alle stehen hinter Dudajew  ■ Aus Urus-Martan Klaus-Helge Donath

Mit dem Gesicht im Schnee, Hände im Nacken, liegen die Männer da, bewacht von einem Maschinengewehr. Leben sie noch? Ihre Häscher geben keine Auskunft. Sie sind hochgradig nervös, schreien sich an und kommandieren durcheinander. Augenzeugen kommen ungelegen. Schert euch weg! Ein Panzerspähwagen, ein Lada mit aufgerissenem Kofferraum und platten Hinterreifen runden die Szene ab. Die Gefangenen seien Dudajews Leute, läßt sich dem Stimmengewirr entnehmen, nicht alle sind sich allerdings einig.

Die Handvoll Freischärler im Süden Tschetscheniens, zwischen den Ortschaften Grechi und Urus- Martan, gehört zu einem Grüppchen, das ein Warlord namens Gantemirow befehligt. Auch er war mal ein Gefolgsmann Dudajews, bis er sich mit ihm überwarf. Die Gegend um Urus-Martan ist ihre Hochburg, etwa die Hälfte der Bevölkerung soll hier mit Gantemirow sympathisieren.

In den frühen Morgenstunden hatten russische Flieger die Brücke auf der einzigen Verbindungsstraße zwischen der inguschetischen Hauptstadt Nasran und Grosny zerbombt. Einige Wagen schinden sich dennoch durch den Morast und die Furt des Flusses auf das gegenüberliegende Ufer, begleitet von anfeuernden Salven Herumstehender.

Die anderern müssen über Urus-Martan ans Ziel. Eine Gelegenheit für die „Gantemirowzij“ zuzupacken. Zumal russische Flugzeuge jetzt auch wahllos Dörfer im Süden angreifen, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Aggressor macht keine Unterschiede mehr, wahllos schlägt er zu. Die Logik des Kriegsterrors: Kein Ort in Tschetschenien soll als sicher gelten.

Nach dieser Devise bombardieren Flieger auch Dörfer in den Bergregionen. Die Ausfallstraße von Grosny in Richtung Süden haben die Russen nicht abschneiden können. Für viele Städter war das die einzige Möglichkeit, sich aus dem Inferno zu retten. Sie machten sich in die Berge auf, zu Verwandten und Freunden. Dann begann das Bombardement: „Sie kommen am hellichten Tag, läufst du weg, eröffnen sie erst recht das Feuer“, klagt eine ältere Frau in dem Bergdorf nahe der georgischen Grenze.

Ein eiskalter Wind weht, die Luft ist glasklar, das riesige Massiv des Kaukasus verspricht genügend Schutz. Vier Tage Fußmarsch liegt Georgiens Hauptstadt Tbilissi entfernt. Früher machten sich von hier sowjetische Wanderer auf den Weg. Die Abgeschiedenheit trügt. Sechs Luftangriffe auf die umliegenden Dörfer hat der junge Milizionär festgehalten. Mit allen Einzelheiten. Tote, unter ihnen Kinder, Verwundete, Sachschaden. „Neun Ziegen, eine Kuh, zehn Schafe ...“ Seit 14 Monaten schuldet ihm das Dudajew-Regime seinen Lohn. Er arbeitet trotzdem, „irgendwie kommt man durch“, meint er. „Im Vergleich mit dem Krieg lebten wir früher ruhig.“

Durch die Polizeistation pfeift der Wind. Beim Bombardement splitterten sämtliche Fenster. Die Scherben liegen noch auf dem Boden. In einem Raum bollert ein Holzofen. Strom gibt es schon seit Wochen nicht mehr. Der Angriff galt der Brücke, wenige Meter weiter. Fünf verrußte Einschlagkrater rundherum blieben als Beweis, der Brücke passierte nichts. Die Frauen sind nicht zu beruhigen. Sie können und wollen nicht begreifen, was um sie herum geschieht. „Kassettenbomben haben sie abgeworfen, mit Zeitzündern, damit die Kinder sie aufsammeln. Noch einen Tag lang detonierten sie.“ Ihre Toten können sie nur nachts bestatten, tagsüber ist es zu gefährlich. „Sie warten darauf, daß viele Menschen zusammenkommen.“

Die Barbarei trägt für sie einen Namen: Rußland. „Dabei haben wir ihre Alten ernährt, die in Grosny an jeder Ecke sitzen“, schreit eine. Russen zählten zu den Armen in Grosny, nach dem Zerfall des alimentierenden Sowjetsystems fiel es ihnen schwerer, sich selbst zu versorgen. „Wie danken sie es uns? In jedem Haus haben wir Russen aufgenommen.“ Sie können nicht nachvollziehen, daß Russen nicht einmal auf ihre Landsleute Rücksicht nehmen. Für Tschetschenen, die in engen Familien- und Sippenbanden leben und als Volk immer wieder von der Ausrottung bedroht waren, ist das unbegreiflich. Man hält zusammen und hilft einander. In vielen Häusern wohnen dreimal soviel Menschen wie in Friedenszeiten. Man teilt alles und beklagt sich nicht. Der Widerstandsgeist ist ungebrochen, es scheint sogar, als wachse er täglich, mit jeder zweiten Bombe. Menschen, die Rußland nicht mit Haß begegneten und auch Dudajew nicht stützten, wurden zu unversöhnlichen Gegnern Moskaus. „Sie haben uns belogen“, sagt eine Frau ruhig, „diesmal fallen wir nicht darauf rein.“

Sie meint die Deportation 1944, als das gesamte Volk in Viehwaggons nach Kasachstan transportiert wurde. Wer sich in die Berge verdrücken konnte, war vor den Häschern des NKWD nicht sicher. Zu umständlich war es, die Bevölkerung aus den entfernten Bergdörfern in die Niederungen zu bringen. Jeder Tschetschene, ob jung oder alt, erschaudert bei der Erwähnung des Ortes Chaimbach. Menschen wurden in Scheunen zusammengetrieben und bei lebendigem Leibe verbrannt. Oder einfach ertränkt wie im See Kesenoj-Am. Wie Sklaven – und das kann das stolze Volk, das den Russen im 19. Jahrhundert fünfzig Jahre erbitterten Widerstand leistete, bis heute nicht verwinden. Daraus erklären sich Entschlossenheit und Todesmut der Freischärler. Für Sklaven habe Allah nichts übrig, meinte einer von ihnen.

„Babrudi“ nennt er sich. Einige Tage wolle er sich erholen. Ein kleiner drahtiger Mann. Der Magen mache ihm zu schaffen, sagt er, aber er klagt nicht. Er war im Präsidentenpalast in Grosny dabei und scheint einer der wichtigeren „Gruppenchefs“ zu sein. Doch dazu schweigt er. Seine Guerilla- Erfahrungen sprechen für sich. In Abchasien kämpfte er gegen Georgien, in Nagorny-Karabach gegen Armenien und in Afghanistan... Die Sowjetarmee gab ihm eine Ausbildung als Offizier. „Wir Tschetschenen waren ihre besten Soldaten“, sagt er mit Stolz. Dergleichen hört man öfters, nicht nur aus dem Munde von Tschetschenen. Der hartnäckige Widerstand in Grosny scheint es zu belegen. Heute seien sie noch stärker, dem Gegner fehle der Mut. „Er weiß nicht, wofür er kämpft.“ Wenn Babrudi den Raum betritt, verstummt das Gespräch und seine Freunde und Kampfgefährten erheben sich lautlos. Mit einem angedeuteten Wink fordert er sie auf weiterzumachen. Es herrscht erstaunliche Disziplin unter ihnen. Wer in die Schlacht zieht, trinkt keinen Alkohol und ißt nur mäßig.

Für die Versammelten bestehen keine Zweifel: Diesmal will Rußland das kleine Volk ausmerzen. Mit irgendwelchen Banden wäre Moskau anders fertig geworden, hätte es gewollt. Sie äußern sich kritisch zu Dudajew und seiner Umgebung. Der Präsident, der sich seit Wochen im verborgenen aufhält, kontrolliert die einzelnen Grüppchen nicht mehr. Sie wirken für sich. Einer meint, auch Dudajew treffe die Schuld, sein Volk in so einen Krieg hineingezogen zu haben. Er ist nachdenklich, „wahrscheinlich wäre es ohnehin soweit gekommen“. Dudajew gibt er für die Zeit danach keine Chance wie die anderen Dorfbewohner vor ihm auch.

Überhaupt brauchten sie keinen Präsidenten mehr. Einige wollen zurück zur Verwaltung durch die Ältestenräte, anderen reicht ein Parlament. Doch das sind Überlegungen, die einer Zukunft angehören, die weit weg liegt. Wird ihr Volk den Krieg überleben? Bis zum letzten Blutstropfen werden sie kämpfen. Ein getöteter Tschetschene auf hundert Russen, das haben sie sich geschworen.

Die Nacht ist frisch, der Mond läßt die schneebedeckten Hänge glimmen. Nirgends flackern mehr die Kerosinbrenner. Diese Nacht kommen keine Bomber. Ein Teil der Jungen bricht auf, wohin, sagen sie nicht. Babrudi ist nicht nur der verehrte Guerillero, er ist auch der maßgebliche Ideologe. Für ihn steht alles im Koran, seine Philosophie ist ein wirres Gemisch aus Islam, Naturlehre, Machismo und allerhand unverdauten Verschwörungstheorien. Doch das stört keinen. Auch Antisemitismus flackert auf. Man hofft auf die Hilfe von außen, aus der arabischen Welt. „Wir brauchen Waffen und keine humanitäre Hilfe“, so der Grundtenor. Gibt Rußland keine Ruhe, „dann wird eines Tages die Fahne des Islam auf dem Kreml wehen“.

Am Morgen organisiert der Milizionär einen Wagen runter ins Tal. 150 Meter tief stürzt die Schlucht linker Hand ab. Manchmal bleibt gerade genug Platz für ein Auto: Nach halber Strecke entschuldigt sich der Fahrer für die unsanfte Tour: „Kann nur mit der Kupplung drosseln, Bremsen kaputt!“ Er wollte uns da oben nicht hängenlassen. Sein Niva trägt die Spuren einer Schießerei, Fenster und Kühlerhaube kugeldurchsiebt, Benzinanzeige auf Reserve.

In der Zwischenzeit haben die Russen auch die Brücke in der Nähe der Stadt Argun zerstört, die einzige Verbindung in den nördlichen Landesteil, wo die Russen immer mehr schweres Gerät auffahren. Ein Umweg über Dagestan, an die 300 Kilometer, steht an. Keiner will die waghalsige Fahrt unternehmen, bis sich doch noch ein „Dummer“ findet. Die Russen an der Grenze bei Kislar verweigern die Weiterfahrt. Es fehlten die richtigen Dokumente, ein „großes Formular“, wie der Sergeant mit wedelnden Armen zeigt, um die Wichtigkeit zu unterstreichen. Schließlich gelingt es doch.

Alle zehn Kilometer Straßensperren. Die Truppen des Innenministeriums werden unangenehm. Leibesvisitation. „Hände hoch! Aufs Dach legen! Hände aus den Taschen, in einer Reihe aufstellen, hab' ich gesagt!“ Primitivlinge, die rumschnauzen, ihre Gesichter verborgen hinter schwarzen Masken, die Kalaschnikow zeigt auf die Delinquenten. Angst, sie könnten losschießen, und keiner hätte es gesehen. Den anderen, den Tschetschenen, wird man es in die Schuhe schieben ...

In Tolstoi-Jurt, 20 Kilometer nördlich von Grosny, hat sich die Armee aufgebaut. Eine Haubitze neben der anderen. Vor ihnen haben die Soldaten Feuer gemacht, um sich aufzuwärmen; die Stellung will kein Ende nehmen. Im Klubhaus des Ortes treffen immer noch Flüchtlinge ein. Mehrere tausend wohnen schon bei Familien, die anderen werden nach Mosdok, dem Operationszentrum der russischen Armee, gebracht.

Tolstoi-Jurt ist die Heimat des ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Sowjets Rußlands, Ruslan Chasbulatow. Ein Plakat der „friedensstiftenden Initiative des Professors Chasbulatow“ kündet am Klubhaus von seiner erfolglosen Mission. Die 11.000-Seelen- Gemeinde galt mal als Hochburg des Widerstands gegen Dudajew. Heute sind die Menschen verwirrt. Eine Tschetschenin, Russischlehrerin aus Grosny, bittet darum, „in Moskau Jelzin und denen zu sagen, was hier wirklich passiert, ein Genozid“. Sie will nicht wahrhaben, daß diese Barbarei in vollem Bewußtsein geschieht. „Wer übernimmt dafür die Verantwortung, wer kann das wiedergutmachen?“ betäubt sie sich selbst, als gäbe es ein Fünkchen Hoffnung, das die Ungerechtigkeit mildern könnte.

Die meisten der Dorfbewohner sehen es, wie es ist, als Vernichtungsfeldzug gegen Tschetschenien. Die Russen haben es verstanden, alte Wunden aufzureißen. Alle fünfzehn Sekunden donnern die Haubitzen Richtung Grosny, ohne Unterlaß, bis weit in die Nacht hinein. Vor dem Klubhaus warten die Flüchtlinge auf Rußlands angekündigte „humanitäre Hilfe“, Geld und Sachmittel. Bisher hat keiner von ihnen etwas gesehen. Sie werden von lokalen Verwaltern vertröstet aufs Ende der Woche. Dann haben die Russen schon alles verhökert. Wie jener Soldat, der vom Lkw runter Beutegut aus Grosny verkaufen will. Marodeure.

Die einzige Hilfe stammt von einem lokalen Robin Hood, Lobasanow. Er diente Dudajew einst als Polizeichef Grosnys, bis auch er sich mit seinem Herrn überwarf und die Reihen der Opposition stärkte. Nicht ohne seine Schäflein ins trockene gebracht zu haben. Mit seinen Getreuen sitzt er hinter bewachten Mauern und wartet auf die Russen. Im Hof ein riesiger Jeep mit arabischem Kennzeichen und eine Mercedes-Limousine. Er verteilte einige Millionen Rubel unter den Flüchtlingen und organisierte ihren Abtransport. Ein 28jähriger Robin Hood, wie ihn die Russen eigentlich zu suchen vorgeben ...

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