■ Eine telefonische Mitteilung aus dem belagerten Bihać und Gedanken zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: Ein Stein darauf
„Seit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens am 23. Dezember 1994 haben die Angriffe auf Bihać nicht nachgelassen. Im Gegenteil – es wird mit allen möglichen Mitteln auf die Verteidigungslinien der Stadt und auf zivile Ziele geschossen. Vor den Augen der Unprofor sind seit dem 23. Dezember achtzig Menschen in Bihać getötet und mehrere hundert Zivilisten zum Teil schwer verletzt worden. In den letzten drei Monaten kamen nur drei Konvois mit 350 Tonnen Nahrungsmitteln durch. Kaum zum Überleben für eine Woche für die 200.000 eingeschlossenen Menschen. Täglich sterben mehrere an Unterernährung und Schwäche. Das Krankenhaus hat weder Medikamente noch Sanitätsmaterial.“
Dies ist der telefonische Bericht des Vorstehers der Kreisverwaltung Bihać, Hamdija Kabiljagić, vom Samstag, dem 28. Januar 1995, 20.34 Uhr.
Eine von vielen Mitteilungen, an die wir uns gewöhnt haben. Vukovar, Dubrovnik, Mostar, Sarajevo, Goražde, Srebrenica, Grosny... Granaten auf Zivilbevölkerung, eingekesselte Städte, hungernde, sterbende Menschen gehören zu unserem Alltag. Sie brechen über den Flimmerkasten in unser Wohnzimmer ein, es ist alles sichtbar und bekannt, aber kein Mitgefühl regt sich. Oder nur für einen Augenblick. Verdrängen, von uns weisen, wegschauen – es scheint erlernt. Der Blick wendet sich ab, sucht andere Ablenkungen.
Der 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz ist Anlaß genug, der Opfer zu gedenken. Erinnerungstafeln und Denkmäler werden errichtet. Auch für Sinti und Roma. Die Bilder des Schreckens lassen immer noch erschaudern. Wie es möglich war, bleibt unbeantwortet. 50 Jahre danach werden Ausstellungen gemacht, Filme gedreht. Das Hinschauen wird möglich. Jetzt, wenn die Holzbaracken in sich zerfallen, nur wenige Zeugen am Leben sind, wenn die Spuren verschwinden. Für wen die Ausstellungen, für wen die Filme und Denkmäler? Für die Opfer, gegen das Vergessen, gegen die Gleichgültigkeit, für die nachfolgenden Generationen?
Für die Opfer kann es nicht sein. Ihnen hätte vor der Befreiung von Auschwitz geholfen werden können, Auschwitz hätte es nicht geben dürfen. Dem Vorbereiten und Abtransport in den Tod nach Auschwitz wurde zugesehen. Wenige haben nicht weggeschaut, wenige sich dem widersetzt, wenige sind gerettet worden.
Gegen das Vergessen kann es nicht sein. Es ist schon vergessen, aus den Herzen und Gewissen vertrieben, einer anderen Zeit anvertraut, anderen Menschen, anderen Verantwortlichen.
Gegen die Gleichgültigkeit kann es nicht sein. Während Menschen schuldlos umgebracht werden, wird heute wieder weggeschaut. Wenige widersetzen sich. Und Lieder werden weiter gespielt.
Für die nachfolgende Generation kann es nicht sein. Sie werden für ihre Zeit die Verantwortung tragen. Sie können nicht für unsere Zeit verantwortlich sein, wie auch wir nicht für die unserer Eltern.
Für wen sind die Filme, Ausstellungen und Denkmäler? Sie sind für uns von heute. Sie helfen, die eigene Verantwortung für das Leben abzustellen, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Wir haben genug eigene Sorgen, was gehen uns die Kriege an?, es ist nicht unser Land, das kann doch keiner verstehen – sind Schutzschilder derjenigen, die sich aufgegeben haben. Wie in der Zeit von Auschwitz, als das Bangen ums eigene Überleben, das Beugen vor den Gewalttätigen die Vernichtung ermöglichte. 50 Jahre nach dem Krieg soll die Normalität der Friedenszeit wiederkehren, sollen die Folgen der Kriegszeit beseitigt sein, soll der eigene Krieg für immer verbannt sein. Ein Stein darauf, ein Grabstein für die Geschichte, für die verpaßten Lehren, ein Denkmal unserem falschen Gewissen. Die Normalität heißt, sich vom Schrecken der Vergangenheit zu distanzieren, den Blick auf sich zu richten, sich von anderen abzuschotten, sie in ihren Enklaven zu lassen, die eigenen Enklaven nicht zu verlassen. Sie, die anderen werden beschossen. Wir schützen den Wohlstand unserer Enklave und unseren Frieden. Sie sollen uns in Frieden lassen. Sie sollen dort bleiben. Sie, die sich bis zu uns retten konnten, kosten unser Geld. Sie erinnern an das, was es bei uns nicht mehr gibt. Das milde Asylgesetz ist abgeschafft, die Umsetzung des Gesetzes über die Kriegsflüchtlinge kann verhindert, die Rettungssuchenden (auch Roma) können zurück – in den möglichen Tod – geschickt werden.
Über die Toten von damals kann geredet werden. Sie stehen nicht mehr auf, sie wollen keine Sozialhilfe, keinen Umzug zur Familie, keine Rechte für Blinde und Versehrte. Ein Stein darauf.
In 50 Jahren werden vielleicht Ausstellungen und Filme über die Schindler von heute eröffnet. Werden dann auch Denkmäler errichtet für die Opfer des Unfaßbaren.
Es hagelt Granaten auf Bihać – in diesem Augenblick. Und nichts bewegt sich. Bosiljka Schedlich
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