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Goldener Bär für die Berliner Justiz

■ Staatsanwaltschaft nimmt Anstoß an Werbespot der Kampagne gegen Wehrpflicht / Staatsschutz in Aktion

Filmemacher dürfen aufatmen. Die Berliner Justiz widerlegt in diesen Tagen die in der Branche weitverbreitete Befürchtung, Politiker ließen sich durch nichts mehr aus der Reserve locken. Einen Tag vor Beginn der Berlinale wurde auf Geheiß der Staatsanwaltschaft am Mittwoch abend ein Kurzfilm gegen die Abschiebung von Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien im Steglitzer Kino Adria beschlagnahmt.

Der Grund für die spektakuläre Werbekaaktion: Es lege der Verdacht vor, daß der Streifen Berlins Innensenator Dieter Heckelmann und Bundesinnenminister Manfred Kanther (beide CDU) verunglimpfe und beleidige, so Justizpressesprecher Frank Thiel gestern gegenüber der taz.

Der von der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ initiierte Film läuft derzeit bundesweit in rund 70 Kinos, darunter in mehreren Berliner Spielstätten. Nach Angaben eines Kampagne-Sprechers hatte offenbar ein Mitarbeiter der Innenverwaltung den Film zufällig im Adria gesehen. Daraufhin erschienen am Mittwoch abend zwei Beamte des polizeilichen Staatsschutzes, beschlagnahmten die Filmrolle und übergaben dem verdutzten Theaterleiter eine Bescheinigung.

Für die Staatsanwaltschaft gehe es zunächst darum, sich „Gewißheit über den Inhalt des Films verschaffen“, rechtfertigte Justizsprecher Thiel das Vorgehen der Beamten. Natürlich sei der Staatsanwaltschaft bekannt gewesen, daß in weiteren Kinos der Film ebenfalls gezeigt werde. Warum ausgerechnet das Adria zur Zielscheibe der Aktion wurde, konnte sich Thiel aber auch nicht erklären.

Offenkundig soll die Schlußsequenz des Schwarzweißfilms mit den Gesetzesparagraphen abgeglichen werden. Kurz vor dem Abspann wird ein junger Mann gezeigt, der aus der Zelle eines Militärgefängnisses heraus der Erschießung eines Deserteurs zusieht. Nachdem ein Schuß zu hören ist, wird die Zeile „Abschiebung ist Mord“ eingeblendet. Kurz darauf endet der Film mit der Passage: „Seit dem 1. Dezember 1994 lassen die Innenminister Kanther, Heckelmann, Beckstein (bayrischer Innenminister – die Red.) und andere, Deserteure und Kriegsflüchtlinge abschieben“.

Die PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus verurteilte gestern die Beschlagnahme und kündigte an, eine parlamentarische Initiative zu ergreifen, „um das grundgesetzlich verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung vor dem Zugriff des Staatschutzes zu schützen“. Juso-Landeschef Matthias Linnekugel meinte gar, Heckelmann „unterdrücke die freie Meinungsäußerung“.

Dieser zeigte sich gestern gewohnt selbstsicher. Die Maßnahmen zur Abschiebung seien nicht nur gesetzlich abgesichert, sondern auch zur „Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung“ unverzichtbar, so Heckelmann. Während die Faxmaschinen Stellungnahme hinter Stellungnahme ausspuckten, lief der Film am gestrigen frühen Nachmittag auf der Berlinale im Atelier im Zoo-Palast. Beinahe ungestört. Denn Unterstützer der Kampagne ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, vor dem Film Werbung in eigener Sache zu machen. Severin Weiland

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