: Die Verrechnungskünste des „Spiegel“
„Recherchen“ über die angeblich versandeten 65 Milliarden für den „Aufschwung Ost“ bedienen deutsche Stammtische / Absicht: dem Solidarbeitrag den Garaus machen ■ Von Christian Semler
Berlin (taz) – Offenbar waren die Rechercheure der Spiegel- Story „Milliardengrab Aufschwung Ost“ der Meinung, die Nummer eines Behördenreferats sei identisch mit der Zahl der dort diensttuenden Beamten. Denn nur auf Grund dieser Annahme konnten sie zu der Erkenntnis kommen, daß in den Referaten Nr. 44 (Zivilschutz) und Nr. 65 (Landesgeheimschutz) ebenso viele Beschäftigte sitzen. In Wahrheit waren es nach Mitteilung des sächsischen Innenministeriums insgesamt sechs Mitarbeiter, deren Zahl sich – Resultat einer Unternehmensberatung – demnächst noch halbieren wird.
Die alte Erkenntnis, daß sich vom Spiegel jedermann korrekt informiert fühlt, außer denen, die über ein paar Basiskenntnisse des in Frage stehenden Gebiets verfügen, hat sich letzten Montag ein weiteres Mal glänzend bestätigt. Die Kardinalzahl des Spiegel, 65 in den neuen Ländern versickerte und versandete Steuermilliarden, entstand auf Grund einer ganz anders gearteten Schätzung des Landesrechnungsprüfers von Sachsen- Anhalt, Horst Schröder. Der Kontrolleur glaubte, die Verwendung von bis zu zehn Prozent der Hilfsgelder für Sachsen-Anhalt könne nicht mehr zuverlässig nachgewiesen werden. Es handelte sich hier um eine etwas freihändige Meinungsäußerung, denn Rechnungshöfe kontrollieren nur mittels Stichproben. Schröders Prozentsatz wurde vom Spiegel auf die (von dem „Nachrichtenmagazin“ angenommene) Gesamtzahl aller (also auch der gesetzlich vorgeschrieben sozialen) Transfers in die neuen Länder bezogen: 650 Milliarden Mark. Zehn Prozent davon gleich 65 Milliarden Mark. Diese Summe wurde anschließend Schröder in den Mund gelegt und avanciert jetzt zum Totschlag- Argument, um dem Solidarbeitrag den Garaus zu machen.
Zwei Beispiele ausgefeilter Recherchier-Kunst: Laut Spiegel- Story sind seit 1990 in der Stadt Brandenburg 79 Millionen Mark, die zur Sanierung des „maroden Stadtkerns“ bestimmt waren, „nahezu spurlos versickert“. In der Tat, 79 Millionen sind vom Bund und Land in das zur „Modellstadt“ avancierte Brandenburg geflossen. Der Bundesrechnungshof, der die Verwendung der Bundesmittel kontrollierte, beanstandete im Herbst letzten Jahres zwei Häuserkäufe durch die Stadt und die Neuverlegung von Leitungen auf der Dom-Insel. Der Verdacht der Zweckentfremdung betraf 1,5 Millionen Mark. Brandenburg protestierte und verwies darauf, daß es bei dem einen Hauskauf um einen neuen Kinderladen, beim zweiten um die Einbeziehung des Hauses in die Stadtmauer-Promenade gegangen sei. Die Erneuerung der Leitungen sei dringend geboten gewesen. Am 8.2. dieses Monats erklärte das Bundesbauministerium, es sähe in allen drei Fällen keinen Grund zur Beanstandung.
Der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft LWB rechnet der Spiegel vor, sie müsse jetzt ein Vierteljahrhundert lang 900 Millionen Mark an Tilgung und Zinsen bezahlen, weil sie „reihenweise“ Häuser renoviert habe, auf denen Rückgabeansprüche lagen. Angesichts der Tatsache, daß 1990 bis 1992 die Gesamtzahl der Rückforderungen nicht genau absehbar war, die Häuser aber zusammenzufallen drohten, hat die LWB sich eben als Notgeschäftsführer betätigt. Die 400 aufgewendeten Millionen waren nicht vom Bund kreditiert, sondern stammten aus ERP-Fonds. Dieser Kredit ist jetzt abgelöst beziehungsweise wurde umgeschuldet. Viele der neuen Hauseigentümer zahlten bisher freiwillig für die „aufgezwungene Bereicherung“, die anderen werden eben verklagt. Der tatsächliche Verlust ist also gegenwärtig gar nicht ermittelbar, liegt aber weit unter der willkürlich vom Spiegel angegebenen Summe.
Wo wenigstens die Fakten halbwegs richtig wiedergegeben sind, werden die Rahmenbedingungen absichtsvoll ausgeblendet. Die Vielzahl der überdimensionierten Kläranlagen verdankt sich den Fördervorschriften des Bundes, die bei der Mischfinanzierung solcher Projekte eine Mindestgröße zwingend vorschreiben. Nicht durchgeknallte Ossi-Dorfpolitiker, sondern solide Gastbeamte aus NRW haben hier den Vorschriften genügt. Unter Druck standen sie auch noch, denn die – fairerweise schon verlängerte – Frist für die Einhaltung der EG- Wasserklärungsnormen zwang und zwingt zur Eile.
Dem Bombardement durch die Texte tritt die suggestive Wirkung durch die Bilder zur Seite: das Gewerbegebiet von Radeburg-Süd, das dem Leser gähnend leer entgegenstarrt – heute, Februar 1995, boomt es. Fotografiert wurde es 1992 – so einfach funktioniert die Aufklärung à la Spiegel
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