: Vogelsprache
Ein apartes Handbuch über das Pfeifen ■ Christoph Wagner
Ludwig Wittgenstein tat es, Delphine und Murmeltiere tun es, und Ilse Werner bekanntlich auch: Alle pfeifen und alles pfeift! Dem einen sein Schwein, dem BMW (Reihe 502) die Karosserie. Manche pfeifen aus dem letzten Loch, andere nur so vor sich hin. Seeleute und Eisenbahnschaffner verständigen sich durch Pfeifsignale, ganz wie die Pygmäen im afrikanischen Regenwald, die bei der Jagd auf Eintonpfeifen blasen. Das Pfeifen ist „die Sprache der Vögel“, aber auch eine der elementarsten musikalischen Äußerungen des Menschen, die gerade deshalb gerne übersehen wird – zu „profan“.
Das Berliner Festival „Pfeifen im Walde“ hat im September 1994 erstmals versucht, dieser Ignoranz ein Ende zu bereiten und das Phänomen ins Zentrum eines Veranstaltungsprogramms gerückt. Es gab Ausstellungen von archäologischen und historischen Pfeifinstrumenten, Pfeifinstallationen und Demonstrationen von Pfeifsprachen, ornithologische Vorträge, „Filme mit Pfiff“ sowie Konzerte zum Thema „Vogelstimmen in der alten Musik“ oder „Der lange Abend der Amateurpfeifer“, um letztendlich herauszufinden: Wer pfeift am schönsten und am merkwürdigsten?
Als Begleitband zum Festival ist „ein unvollständiges Handbuch zur Phänomenologie des Pfeifens“ erschienen, das die vielfältigen Recherchen zum Thema in alphabetischer Reihenfolge zusammenfaßt – von A wie „Aberglauben“ bis Z wie „Zwei glorreiche Halunken“. Wenn man erst einmal die Welt der Töne betreten hat, die „durch Anblasen der Mundhöhle bei Bildung einer von den Lippen begrenzten Enge“ erzeugt werden, beginnt es alsbald an allen Ecken und Enden zu piepsen, zu flöten und zu pfeifen. Da begegnen einem pfeifende Känguruhs und pfeifende Schlagerstars, der Jazzpfeifer Toots Thielemans nebst 5.000 Basler Fastnachtspfeifern sowie der „Paganini der Pfeifer“, dazu eine ganze Reihe von Komponisten der ernsten Musik, die in ihre Werke Pfeiftöne miteinbezogen haben.
Claude Debussy war einer von ihnen. Er erwog, in seiner unvollendeten Oper „Le diable dans le beffroi“ die Hauptpersonen pfeifen statt singen zu lassen. Olivier Messiaen, John Cage und Pierre Schaeffer waren andere, die später in dieser Richtung experimentierten.
Oft waren es Vogelstimmen, die die Musiker faszinierten – so ist es bis heute. Avantgardisten wie der Amerikaner Nicolas Collins beziehen die „schönsten Vogelgesänge“ (so der Titel eines seiner Stücke) in ihre elektronischen Verwandlungskünste mit ein, genauso der Engländer Peter Cusack. Seit Jahren schon sitzt er überall auf der Welt mit dem Mikrofon in der Hand im Unterholz und nimmt Vogelstimmen auf, um sie dann daheim am Computer zu Klangeinspielungen für seine Live-Elektronik-Performances aufzubereiten.
Recht kurz angebunden ist das Buch (leider) in bezug auf die populäre Musik. Hier erweist es sich nicht nur als unvollständig, sondern als lückenhaft. Mag es noch verzeihlich sein, daß der englische Pfeifstar Ronny Ronalde nirgendwo auftaucht – er hatte immerhin vor dem Zweiten Weltkrieg mit gepfiffenen Schmalzmelodien einige Riesenerfolge –, so kann die Mißachtung solcher Pfeifgrößen wie Captain Beefheart („Harry Irene“ auf der LP „Shiny Beast“) und Professor Longhair („Mardi Gras in New Orleans“) nicht einfach stillschweigend übergangen werden (Whistling Jack Smith mit „I was Kaiser Bill's Batman“ ist immerhin drin). Auch daß über den „Old Grey Whistle Test“ – die Qualitätskontrolle für die Ohrwürmer der Tin Pan Alley – kein Sterbenswörtchen verloren wird, ist mehr als eine Unterlassungssünde.
Ein Anfang ist gemacht. Für einen zweiten Band (Titelvorschlag: „Das Pfeifen in Pop und Rock“) gäbe es allerdings noch reichlich Material.
Volker Straebel/Matthias Osterwold (Hrsg.): „Pfeifen im Walde. Ein unvollständiges Handbuch zur Phänomenologie des Pfeifens“. Maly:/Podewil – Berliner Kulturveranstaltungs- und Verwaltungs- GmbH, Berlin 1994, 140 Seiten, zahlr. Abb., 30 DM
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