: Der Kampf der Kirchen gegen ein Schulfach
Anstelle von Religionsunterricht will Brandenburgs Bildungsministerin das Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionen“ zum festen Bestandteil des Schulunterrichts machen. Doch die Kirchen laufen Sturm gegen diesen Plan ■ Von Bernhard Textor
Sie wollte Fakten schaffen, die Bildungsministerin von Brandenburg, Angelika Peter (SPD). Ab 1996, so ihre Ankündigung, soll das neue Schulfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionen“ (LER) in Brandenburg als ordentliches Unterrichtsfach eingeführt werden. „LER schafft die Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung“, argumentierte sie, „konfessionsgebundener Religionsunterricht kann zusätzlich in Verantwortung der Kirchen angeboten werden.“ Anstelle des üblichen Religionsunterrichts wird das Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionen“ derzeit an 44 brandenburgischen Schulen mit etwa 7.000 SchülerInnen der Klassen sieben bis zehn erprobt. Der zur Zeit größte Schulmodellversuch in Deutschland, der auf große Resonanz bei den SchülerInnen stößt und auch in anderen europäischen Ländern immer mehr Beachtung findet, läuft im Sommer aus. Dann sollen die Abgeordneten des Brandenburger Landtags entscheiden, ob LER an allen Schulen als Pflichtfach eingeführt wird. Wie diese Entscheidung ausfällt, steht noch in den Sternen. Denn kaum hatte Bildungsministerin Peter Anfang des Jahres ihren Vorstoß gewagt, da reagierten die Kirchen des Landes mit einer Welle der Empörung. Die Evangelische Kirche drohte prompt mit einer Verfassungsklage. Es sei nicht verfassungsgemäß, wenn der weltanschaulich neutrale Staat in einem Pflichtfach plötzlich Weltanschauungsunterricht vorschreibe, lautet die Argumentation. Und der evangelische Bischof Huber kündigte prompt an, er werde bei Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) intervenieren.
Für Außenstehende ist dieses Hickhack hinter den Kulissen schwer zu durchschauen. Dabei könnte dem Brandenburger Modell nichts Besseres passieren als eine Verfassungsklage. Immerhin müßte sich das Verfassungsgericht dann endlich einmal mit der Frage befassen, inwiefern die christlichen Kirchen überhaupt beanspruchen können, an einer staatlichen Schule derart privilegiert zu werden, wie es in der bundesrepublikanischen Schulgeschichte bisher der Fall ist. Mit der Durchsetzung des Faches LER wäre Bildungsministerin Peter in der Lage, einer beinahe zweitausendjährigen Macht der christlichen Großkirchen über die Staatsregierungen eine Absage zu erteilen. Wenn sich das, was in Brandenburg möglich wird, in Deutschland herumspricht, würden vielleicht noch andere Bundesländer diesem Beispiel folgen. Die Kirchen müßten dann auch auf Millionen von Steuergeldern verzichten, die sie derzeit für den Religionsunterricht an den Schulen und den Betrieb ihrer theologischen Fakultäten erhalten. In der Regel werden die Gehälter von Religionslehrern und Theologen zu hundert Prozent aus der Staatskasse finanziert. Die Kirchen wissen also, warum sie gegen das Vorhaben der Ministerin vorgehen. Es geht dabei nicht nur um ihre gesellschaftliche Legitimation, sondern auch um ihre finanzielle Substanz.
Für eine Bevölkerung, die zu über achtzig Prozent keiner Religionsgemeinschaft angehört, sollte in Brandenburg nach der Wende ein Schulfach geschaffen werden, das lebensbezogene Orientierungen ermöglicht, denn nach dem Zusammenbruch der DDR fehlte es an Orientierungspunkten für die persönliche Lebensgestaltung. „Gemeinsam leben lernen“ lautete das Motto. Das neue Fach, so die Volksinitiative Bildung – in der Wendezeit eine der zahlreichen Bildungsinitiativen in und um Ost- Berlin –, sollte „Lebensgestaltung“ heißen und erhielt erst später die Zusätze „Ethik – Religionen“. Als Marianne Birthler (Bündnis 90/ Grüne) Ende 1990 Bildungsministerin in Brandenburg wurde, griff sie diese Idee mit einem Modellversuch auf.
Das LER-Konzept sieht vor, Schülerinnen und Schülern aller Konfessionen einen gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen, in dem sie sich mit ihren Lebensproblemen sowie ethischen und religionskundlichen Fragen auseinandersetzen können. Aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sollen „authentische Vertreter“ in die Schulen eingeladen werden, so daß SchülerInnen sich in der persönlichen Begegnung mit Menschen verschiedener Weltanschauungen und Religionen ein eigenes Urteil bilden können. Ein Unterricht ohne Noten soll außerdem gewährleisten, daß kein Lehrer durch Notengebungszwang Druck auf die SchülerInnen ausübt. Selbstbestimmung und verantwortliches Handeln in einer multikulturellen Gesellschaft und einem neuen Europa sind die pädagogischen Leitlinien. Das Themenspektrum reicht dabei von der Sexualität über Suchtprobleme bis hin zu religiösen Themen.
Ein neues, ideologisch ausgerichtetes Fach wollte man nach 40jähriger DDR-Schulerfahrung nicht mehr dulden. Die Sehnsucht nach umfassender Bildung, die das persönliche Erleben einbeziehen wollte, trieb die InitiatorInnen von LER seinerzeit dazu an, ein „ganzheitliches“ und interdisziplinäres Fach anzustreben. Ihnen ging es nicht vorrangig um die Vermittlung von Fachwissen, sondern um das Einüben von emotionalen und kognitiven Kompetenzen, von sozialem und demokratischem Verhalten. Eine erste Umfrage unter den 7.000 LER-SchülerInnen ergab, daß sie sich am meisten für Themen wie Liebe und Sexualität, für Tier- und Umweltschutz, aber auch für Esoterik interessieren. Die christlich-kirchliche Religion stößt dagegen nur auf sehr geringes Interesse.
Noch in der ersten bildungspolitischen Wende-Euphorie lehnte es selbst die östliche Kirchenleitung ab, einen staatlichen Religionsunterricht einzuführen. Das christliche Bekenntnis sollte in der Gemeinde gelehrt werden, so, wie es seit vierzig Jahren üblich war. Aber schon nach einigen Monaten der Aufbruchphase gab es westlichen Druck auf die kirchentreuen Parteispitzen der regierenden Parteien. In den Ostländern entstand nach der Wende die seltsame Situation, daß engagierte Christen schnell in gehobene Parteispitzen gelangten, da sie als vertrauenswürdige Systemkritiker galten. Noch heute hält es ein ostdeutscher Politiker für besonders erwähnenswert, sich als „von Haus aus Theologe“ vorzustellen, obwohl inzwischen längst bekannt ist, daß auch Kirchenfunktionäre zu DDR-Zeiten mit der Stasi kooperierten. Ostdeutsche hatten die Kirche bis 1989 nur als Widerstandskirche „von unten“ kennengelernt. Westdeutsche hingegen haben Kirche als Herrschaftsinstrument des Staates erlebt, nicht nur zur Zeit der Adenauerregierung, auch im letzten, CDU-regierten Jahrzehnt.
Nach der Wende schlossen fast alle ostdeutschen Länder Staatsverträge ab, mit denen der Religionsunterricht in den Schulen festgeschrieben wurde. Nur in Brandenburg ist es Dank einiger wacher Bürgerinitiativen bisher nicht gelungen, konfessionellen Religionsunterricht als Pflichtfach des Staates in die Verfassung einzuschreiben. Und so wurde das Land zur Bedrohung für die Kirchen in ganz Deutschland. Fakt ist in Brandenburg aber auch, daß die ostdeutsche ungetaufte Bevölkerung von einer religiösen Minderheit regiert wird. Die erste Bildungsministerin, Marianne Birthler (von Haus aus Katechetin), bot den Großkirchen eine Mitarbeit in den Schulen an. Dieses Angebot ging den Kirchenfunktionären jedoch nicht weit genug. Als Birthler den kirchlichen Forderungen nicht nachgeben wollte und weiterhin auf dem Grundsatzkonzept von LER bestand, erklärte Ministerpräsident Stolpe (von Haus aus Kirchenjurist) LER kurzerhand zur „Chefsache“. Er veranlaßte per Kabinettsbeschluß einen Kompromiß, der große Enttäuschung bei allen verursachte, die sich durch LER eine ernsthafte bildungspolitische Innovation für die deutsche Schullandschaft erhofft hatten.
Das von Stolpe installierte LER-Kompromißmodell sorgte für erhebliche praktische Probleme in den Schulen, die auf den Schultern der SchülerInnen und LehrerInnen abgeladen wurden. Das ministerpräsidiale LER-Kompromißmodell legte fest, daß die Klassen nun doch längere Zeit getrennt werden konnten, um am konfessionellen Religionsunterricht teilzunehmen („Differenzierungsphase“). Die Kirche schickte ihre Lehrkräfte kurzerhand unvorbereitet in die Schulen zu Kindern, die größtenteils zu christlicher Religion nicht zu motivieren waren. Aufgrund des Desinteresses der SchülerInnen fand ein Differenzierungsversuch nur an neun von 44 Schulen statt. Nur an dreien gelang er mit der vorgeschriebenen Mindestzahl von zwölf für den Religionsunterricht interessierten SchülerInnen. An allen anderen Schulen wird der LER-Unterricht trotz Kabinett-Einmischung nach dem ursprünglichen Modell durchgeführt.
Der zweite Brandenburger Bildungsminister Roland Resch (Bündnis 90/Grüne), mußte sich nach dem Rücktritt von Marianne Birthler erst einmal einarbeiten, und westliche Ministerialbeamte beeinflußten den Modellversuch, von dem einige wohl annahmen, daß es ein ganz normaler Ethik- Unterricht auch täte, wie er im Westen oftmals als Ersatzfach für christliche Religion gewählt werden muß. In den anderen neuen Bundesländern hatten CDU und Kirchen sich sofort darum bemüht, Ethik und Religion als Wahlverpflichtung in die Landesverfassungen einzuschreiben – so wie sie es seit der Weimarer Republik hintertreiben, daß sich ein selbständiges Fach zu „Lebensfragen“ entwickeln kann. In der Weimarer Republik gab es nach der Abschaffung der Monarchie demokratische und liberale Forderungen, Staat und Kirche strikt zu trennen und ein eigenständiges staatliches Unterrichtsfach zu Lebensfragen einzurichten. Begriffe wie „Lebensführung“, „Lebensgestaltung“, „Lebenskunde“ hatten damals Hochkonjunktur. Aber die Kirchen protestierten in Form einer Petition mit vier Millionen Unterschriften für die Beibehaltung der christlichen Schule. Als Kompromiß entstand ein Gesetz zur Einrichtung konfessionsfreier Schulen, wenn Eltern sich dafür einsetzen. Schon damals entstand aus Beaufsichtigungsgründen die erste Form der Ersatzfachkonstruktion „Ethik“ für Kinder, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen wollten.
Heute gehen viele Landtagsabgeordnete des Ostens immer noch brav zur Kirche, so wie sie zur Eröffnung des Brandenburger Landtages die Messe des Berlin-Brandenburger Bischofs Huber besuchten, der in seiner Predigt eine „Öffnung der Schulen für die Kirchen“ anmahnte. Im Februar reagierte Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe auf die Erklärung seiner Bildungsministerin, indem er ihre Klarstellung in aller Öffentlichkeit als „nur persönliche Position“ abqualifizierte. Der gerade neu gegründete Landesfachverband LER reichte daraufhin eine Petition an den Landtag ein, in der sie anfragen, ob Abgeordnete es erlauben, daß Manfred Stolpe seinen Privatglauben zum staatlichen Wahlpflichtschulfach erheben kann, und ob er weiter so ungehindert eine Politik machen dürfe, die eindeutig als „Kirchen-Lobbyismus“ bezeichnet werden muß. Für den LER-Unterricht und dessen Etablierung an allen Brandenburger Schulen haben sich inzwischen fast alle demokratischen Gremien ausgesprochen, beispielsweise der Landeselternrat, der Landesschulbeirat, der Landeslehrerrat und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Doch das scheint Stolpe nicht im geringsten zu respektieren. Wenn er manchmal öffentlich von den „berechtigten Forderungen der Kirche“ spricht, dann steht im Hintergrund sein altes Funktionärsdenken, in dem es wohl nur Menschen mit Parteibuch oder Taufschein gibt.
Sollte die Kirche tatsächlich, wie angedroht, eine Verfassungsklage einreichen, so hat das Fach LER durchaus gute Chancen, denn ein Staat darf nach unserem Grundgesetz so viele Schulfächer einführen, wie er es für sinnvoll hält, um demokratisierende Prozesse des gesellschaftlichen Lebens zu fördern. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den Kirchen, ihre Religion als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen im Grundgesetz zu verankern (Art. 7 III GG). Neben diesem Verfassungsartikel existiert jedoch auch das Persönlichkeitsrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit (Art. 4 und 7 II GG). Dieses Recht auf Glaubensfreiheit wird in manchen Landesverfassungen mißachtet. So beispielsweise in Baden- Württemberg, wo es heißt: „Die Jugend ist in der Ehrfurcht zu Gott zu erziehen“, oder in Rheinland- Pfalz, wo die Verfassung festschreibt: „Die öffentlichen Grund-, Haupt- und Sonderschulen sind christliche Gemeinschaftsschulen.“ Die meisten Landesverfassungen beziehen sich in dieser Frage allerdings auf unser Grundgesetz, da es sowieso das höhere Recht ist und Landesrecht bricht. Das allerdings hinderte Kirchenfunktionäre bisher nicht daran, das Grundgesetz im Landesrecht zu umgehen.
Wie kann es nun angehen, daß SchülerInnen in den Staatsschulen sich für oder gegen christlichen Religionsunterricht entscheiden müssen, wenn sie doch gar nicht zur Religion verpflichtet werden können? Kann dieser Religionsunterricht verfassungsrechtlich überhaupt Gegenstand eines Wahlpflichtbereiches sein, wie ihn Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) unlängst auch für die Hauptstadt forderte? Diepgen macht sich für ein Ethik-Unterrichtsmodell stark, das alternativ zum Religionsunterricht eingeführt werden soll. Warum aber sollen SchülerInnen für das Ersatzfach Ethik verpflichtet werden, wenn sie für das Primärfach Religion nicht verpflichtet werden können? Es bliebe abzuwarten, wie die Verfassungsrichter diesen Widerspruch abwägen würden. Im Trend der Stärkung religiöser Unterweisung im Staatsauftrag läge auch die Einführung des schulischen Islamunterrichts, wie es in Ländern wie Nordrhein- Westfalen oder Berlin derzeit erwogen wird. Wem sollen Kinder in öffentlichen Pflichtschulen noch ausgeliefert werden?
Unser Grundgesetz jedoch verfügt auch über den Artikel 141, der besagt, daß ein Bundesland, das vor dem 1. Januar 1949 hinsichtlich des schulischen Religionsunterrichts eine andere Gesetzgebung hatte, nicht auf Artikel 7, III des Grundgesetzes verpflichtet werden kann. Dieser Passus gilt für alle ostdeutschen Bundesländer. Die Gesetzesgeber dieser Bundesländer sind also völlig frei, über das Ob, Wie und Wieviel des Religionsunterrichts zu entscheiden. Die konfessionsfreie Mehrheit Brandenburgs zumindest hat den Regierenden bestimmt nicht den Auftrag erteilt, ihre private Religion als Landesreligion festzuschreiben. Die Zeiten der feudalen Fürstenrechte müßten eigentlich vorbei sein.
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