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■ Studienabbrecher sind vielfach erfolgreicher als ihr Ruf. Zahlen über massenhafte Abbrüche basieren auf falschen Erhebungsmethoden. Vielschichtige Gründe für vorzeitigen Abgang von der Universität.Von Semi-Akademischen Karrieren

Die Universitäten werden ihrem Lehrauftrag nicht mehr gerecht – als Indiz für diesen Vorwurf wird häufig die vermeintlich horrende Zahl der Studienabbrecher angeführt. Die Realität ist jedoch komplexer als die oft gebrauchten Phrasen in der öffentlichen Debatte: Etwa 28 Prozent der Studienanfänger brechen ihr Studium ohne Examen ab, das sind rund 60.000 junge Leute jährlich. Diese Studienabbrecher sind nur selten „Versager“. Als Grund für den Studienabbruch werden am häufigsten arbeitsmarkt- und berufsbezogene Motive genannt. Nach einer Orientierungsphase von bis zu vier Semestern hat die Hälfte der Studienabbrecher das Studium bereits aufgegeben. Die Mehrheit – Frauen wie Männer – strebt direkt oder nach einer beruflichen Ausbildung in das Berufsleben.

In der Öffentlichkeit wird geklagt, es gebe zu viele Studienabbrecher. Die Schreckensmeldungen gehen bis zu der Behauptung, drei Viertel aller Studenten seien Studienabbrecher. Manchmal werden dabei alle Studierenden zusammengezählt, die irgend etwas im Studium „abbrechen“: Hochschulwechsler, Studienfachwechsler und alle, die den Abschluß wechseln, werden als Abbrecher aufgeführt. Dazugezählt werden auch diejenigen, die nach dem ersten Examen ein Zweitstudium beginnen – beispielsweise um zu promovieren – und dies dann doch nicht zum Abschluß bringen. Mit all diesen werden die „richtigen“ Abbrecher in einen Topf geworfen. Solche Rechnungen sind unsinnig und verwirrend.

Wie viele Studienabbrecher gibt es tatsächlich, wann und warum brechen sie das Studium ab? Das Hochschul-Informations-System (HIS) in Hannover befaßt sich seit mehr als zwanzig Jahren mit diesen Fragen. Studienabbrecher sind nach Definition des HIS nur jene Studierenden, die ihr Studium beenden, ohne ein Examen abgelegt zu haben. Nur sie müssen sich auf dem Arbeitsmarkt, ohne über einen akademischen Abschluß zu verfügen, behaupten.

Fast jeder Dritte bricht das Studium ab

So betrachtet brechen derzeit etwa 28 Prozent aller StudienanfängerInnen ihr Studium ab. Das sind rund 60.000 Menschen jährlich. Die meisten suchen einen Arbeitsplatz. Sie brechen das Studium ab, weil sie im Laufe ihres Studiums merken, daß dessen Inhalte, Ziele und die sich damit eröffnenden Berufe mit ihren persönlichen Zielen nicht in Einklang stehen. Die Hochschulausbildung dauert ihnen zu lange, oder sie sehen nach dem Examen keine günstigen Berufsaussichten. Oft ergeben sich auch momentan günstige Berufsangebote ohne Examen.

Weitere Abbruchursachen sind Geldmangel (oft in höheren Semestern) oder – meist bei Studentinnen – familiäre Gründe, Mutterschaft zum Beispiel. Ein Teil der Abbrecher fühlt sich vom Studium überfordert – Frauen deutlich seltener als Männer. Für ein Drittel ist dies ein Teilaspekt. Jeder zehnte bricht deshalb das Studium ab. Die Ursachen für einen Studienabbruch sind vielschichtig und miteinander verflochten. Etwa ein Drittel der Studienabbrecher studiert nur zwei Semester oder kürzer. Die Hälfte hat die Hochschule nach vier Semestern oder eher wieder verlassen. Nur rund 20 Prozent studieren so lange, daß in dieser Zeit ein Examen möglich gewesen wäre.

Was tun die Studienabbrecher, nachdem sie die Hochschule verlassen haben, welche langfristigen Ziele haben sie? Die meisten Studienabbrecher wollen erwerbstätig werden. Etwa ein halbes Jahr nach Abbruch des Studiums sind knapp 40 Prozent berufstätig, etwa ebenso viele absolvieren eine Berufsausbildung. Acht Prozent sind arbeitslos – Männer häufiger als Frauen – und suchen einen Arbeitsplatz.

Etwas über ein Zehntel der Studienabbrecherinnen ist als Hausfrau oder Mutter tätig, knapp ein Zehntel der Männer leistet Wehr- oder Zivildienst ab. Eine Minderheit absolviert Praktika oder ist auf Reisen. 60 Prozent der Studienabbrecher aus Fachhochschulen sind berufstätig. Nur ein knappes Viertel von ihnen macht eine Berufsausbildung. Hingegen befinden sich 40 Prozent der Studienabbrecher aus Universitäten in einer Berufsausbildung. Studienabbrecher aus Universitäten in den neuen Ländern sind am seltensten berufstätig, am häufigsten arbeitslos.

Ein Viertel der Studienabbrecher, die im Beruf oder in der Ausbildung stehen, haben diesen Arbeitsplatz durch Praktika oder Jobs zur Studienfinanzierung bekommen. Dies ist der typische Fall des „gleitenden Übergangs“ vom Studium in das Erwerbsleben. Dabei steht meist zunächst die Finanzierung des Studiums im Vordergrund. Allmählich tritt das Studium immer stärker in den Hintergrund, bis ein Angebot des Arbeitgebers oder der Schritt in die Selbständigkeit den „Werkstudenten“ beziehungsweise Praktikanten zum Erwerbstätigen werden läßt. Ein weiteres Fünftel der erwerbstätigen Studienabbrecher hat seine Stelle über Bewerbungen auf Anzeigen gesucht und gefunden. Ein Zehntel ist über das Arbeitsamt vermittelt worden. Private Kontakte, die Vermittlung durch Bekannte und Freunde, haben weiteren 16 Prozent den Arbeits- beziehungsweise Ausbildungsplatz eingebracht. Besonders starke Eigeninitiative hat eine – allerdings sehr kleine – Gruppe gezeigt: Sie hat selbst inseriert und auf diese Weise im Erwerbsleben Fuß gefaßt. Studienabbrecherinnen haben ihre Ausbildungs- beziehungsweise Arbeitsplätze häufiger als Studienabbrecher über Bewerbungen gefunden. Männer hingegen um etwa die Hälfte häufiger als Frauen über den Job während des Studiums. Letzteres ist auch bei Studienabbrechern aus Fachhochschulen im Verhältnis zu denen aus Universitäten der Fall.

Berufswahl nach traditionellen Mustern

Gut ein Viertel der Studienabbrecher, die ein halbes Jahr nach Studienabbruch berufstätig sind oder eine Berufsausbildung absolvieren, übt Organisations-, Verwaltungs- oder Büroberufe aus. Ein Fünftel Fertigungs- oder technische Berufe. Je etwa ein Zehntel steht in gesundheitsdienstlichen, Bank-, Versicherungs- oder kaufmännischen Berufen, die restlichen erwerbstätigen Studienabbrecher üben meist Sozialberufe aus. Domäne der Männer sind Fertigungs- und Technikerberufe, während Frauen vor allem im Gesundheitsdienst und in Sozialberufen tätig sind. Damit folgen auch die Studienabbrecher und Studienabbrecherinnen in ihrer Tätigkeitswahl traditionellen Verhaltensmustern.

Wie die oben skizzierte Verteilung auf Berufsgruppen vermuten läßt, konzentrieren sich die erwerbstätigen Studienabbrecher in den Wirtschaftszweigen Handel, Dienstleistungen und öffentlicher Dienst: insgesamt 60 Prozent von ihnen. In den Bereichen Handwerk, Landwirtschaft, Industrie, Banken und Versicherungen arbeiten je zirka ein Zehntel.

Abbrecher aus dem Osten oft im öffentlichen Dienst

Während Abbrecherinnen häufiger Stellen im öffentlichen Dienst erhalten, streben die Männer stärker in die Industrie. Studienabbrecher aus Fachhochschulen sind stark überdurchschnittlich in Industrie, Handel, Dienstleistungsgewerbe, Handwerk und Landwirtschaft vertreten. Die Abbrecher aus den Universitäten in den neuen Ländern sind stark überdurchschnittlich im öffentlichen Dienst tätig, nur selten in der Industrie.

Über die Dauerhaftigkeit der Arbeitsverhältnisse kann letztlich nur die Hälfte der erwerbstätigen Studienabbrecher Angaben machen: Zwei Fünftel befinden sich in einer Ausbildung einschließlich Praktikum, im Freiwilligen Sozialen Jahr und ähnlichem. Mit dem Abschluß der Ausbildung endet ihr Vertragsverhältnis automatisch. Von weiteren zehn Prozent der erwerbstätigen Studienabbrecher können hierzu keine Angaben gemacht werden, weil sie beispielsweise selbständig sind oder in der Familie mithelfen. Die berufstätigen Studienabbrecher verfügen zu rund zwei Dritteln über unbefristete, zu etwa einem Fünftel über befristete Verträge. Insgesamt etwa drei Prozent haben ABM-geförderte Stellen oder arbeiten auf Basis von Werkverträgen. Etwa sechs Prozent verfügen über keinen Vertrag.

Von den erwerbstätigen Studienabbrechern sind drei Viertel vollzeitbeschäftigt (37 Stunden wöchentlich oder mehr), Männer überdurchschnittlich häufig. Teilzeitbeschäftigung ist bei den erwerbstätigen Studienabbrechern aus Fachhochschulen besonders selten, bei denen aus Universitäten in den neuen Ländern besonders häufig zu beobachten.

Werden die Einkommensverhältnisse der vollzeitbeschäftigten Erwerbstätigen betrachtet, so zeigt sich: Berufstätige Studienabbrecher verdienen durchschnittlich 3.850 Mark brutto monatlich (siehe Graphik). Das Einkommensniveau der Frauen ist dabei deutlich niedriger als das der Männer. Studienabbrecher aus Fachhochschulen stehen alles in allem finanziell etwas besser da als diejenigen aus Universitäten in den alten Ländern. Sehr niedrig ist das Einkommensniveau der berufstätigen Studienabbrecher aus Universitäten in den neuen Ländern. Studienabbrecher die eine Berufsausbildung machen, verdienen im Durchschnitt etwa 1.150 Mark brutto pro Monat.

Knapp zwei Drittel der erwerbstätigen Studienabbrecher sind nach eigenen Angaben mit ihrer beruflichen Tätigkeit alles in allem zufrieden, knapp ein Zehntel ist unzufrieden. Die anderen sehen ihre Situation zwar nicht als rosig an, haben aber auch keine wesentlichen Probleme.

Wer im Anschluß an den Studienabbruch berufstätig geworden ist oder eine Berufsausbildung begonnen hat, strebt meist langfristig in das Berufsleben, ohne nochmals zu studieren. Praktikanten, Wehr- und Zivildienstleistende wollen überwiegend später erneut studieren. Studienabbrecherinnen, die zunächst als Hausfrauen und Mütter tätig wurden, streben zu je etwa einem Drittel langfristig ein erneutes Studium an. Berufstätigkeit, Haushalt und Familie sind weitere Ziele.

Das Studium ist auch Abbrechern von Nutzen

Welche Qualifikationen sind den Studienabbrechern im Erwerbsleben von Nutzen, womit „ersetzen“ sie das Hochschulexamen? StudentInnen mit abgeschlossener Berufsausbildung sind unter den Studienabbrechern häufiger zu finden als unter Studienanfängern. Ihnen gelingt es im allgemeinen leichter, direkt in einen Beruf zu gelangen, als Studienabbrechern ohne Berufsausbildung vor dem Studium. Mehr als fünfzig Prozent der berufstätigen Studienabbrecher geben außerdem an, daß ihnen Kenntnisse beziehungsweise Fertigkeiten, die sie sich im Studium erworben haben, im Beruf von Nutzen sind.

Drei Viertel der Studienabbrecher haben entweder eine Berufsausbildung bereits vor Studienbeginn abgeschlossen oder wollen sie im Anschluß an den Studienabbruch absolvieren. Für sie tritt die abgeschlossene Berufsausbildung an die Stelle des Hochschulexamens als berufsqualifizierender Abschluß. Wie hoch eine solche Qualifizierung von den Studienabbrechern eingeschätzt wird, zeigt sich darin, daß gut zwei Fünftel von ihnen diese noch im Anschluß an das abgebrochene Studium absolvieren wollen. Dies geschieht in einem fortgeschrittenen Alter, das bei vernünftiger Lebensplanung keine unnötigen Umwege mehr erlaubt.

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