: Kein Platz für Björn
Björn Kulske ist schwerbehindert, und er ist 25 Jahre alt. Zu alt, um weiter zur Schule gehen zu dürfen. ■ Aus Potsdam Anja Kaatz
Björns Finger sind lang und weiß. Immer wieder betrachtet er sie, als habe er sie eben erst entdeckt. Dann hebt er sacht die Hände und bewegt die Fingerspitzen zwischen Nase und Lippen hin und her, als spüre er einem Geruch nach. Dabei zieht er die Augenbrauen konzentriert zusammen. Völlig unvermittelt lacht er laut los, und seine Augen strahlen.
Björn sitzt im Rollstuhl. Er kann nicht sprechen, ist Epileptiker, spastisch gelähmt, wahrscheinlich auch sehbehindert. „Frühkindliche Hirnschädigung – unbekannte Ontogenese“, steht in seinen Personalakten.
Niemand weiß, wie es mit Björn Kulske aus Potsdam weitergeht. Dabei hatte er gerade in den letzten Jahren soviel Glück. Nach der Wende wurde er zum ersten Mal richtig gefördert, denn nach dem Grundgesetz hat jeder Mensch ein Recht auf schulische Bildung. Aber das Gesetz sagt auch, daß Behinderte höchstens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr die Schule besuchen dürfen. Diesen Sommer ist es für Björn soweit. Dann ist nach nur vier Jahren Unterricht in der Oberlinschule endgültig Schluß. Das Heim, in dem er lebt, wird er verlassen müssen. Die Stadt Potsdam teilte mit, eine andere Unterbringungsmöglichkeit könne sie nicht anbieten. Nach der Schule haben Behinderte ein Anrecht auf berufliche Eingliederung, doch es gibt zur Zeit für Björn auch keinen Beschäftigungsplatz.
In den Werkstätten kommen zu den normalen Arbeitsplätzen gewöhnlich zehn Prozent Stellen hinzu, die denen vorbehalten bleiben, die keine verwertbare Arbeit verrichten können. Beim Oberlinhaus, dem einzigen Anbieter in der Region, liegt dieser Anteil wegen des hohen Bedarfs aber schon jetzt bei 25 Prozent, und die Kostenträger stimmen einer Erweiterung nicht mehr zu.
In der DDR gab es keinen Unterricht für schwerst mehrfachbehinderte Menschen. Sie lebten in „Förderpflegeeinrichtungen“, doch Förderung gab es selten. Inwieweit sie in ihrer Entwicklung unterstützt wurden, blieb dem Zufall oder besser dem persönlichen Einsatz ihrer wenigen Betreuer überlassen. Heute werden die meisten dieser Heime in den neuen Ländern umgebaut und modernisiert, doch niemand hat bedacht, was in dieser Zeit mit Menschen wie Björn geschieht.
Noch geht Björn zur Schule. Die Klasse, die er besucht, hat nur vier Schüler, aber zwei bis drei Lehrer. Es gibt keine normalen Fächer, keinen 45-Minuten-Rhythmus, und was ein Erfolg ist, läßt sich nicht leicht bestimmen.
Neben der alten schlammbraunen Schrankwand im Klassenzimmer hängt ein Laken. „Björns Hände“ steht am rechten unteren Rand. Darüber viele bunte Handabdrücke, rot, gelb, blau und grün. „Dafür haben wir fast ein halbes Jahr gebraucht“, sagt Anett Cech lachend. „Nicht wahr, Björn?“ Sie ist jung, rund, fröhlich und Björns Klassenlehrerin. Der kräftige junge Mann mit den dunklen Haaren und dem Bärtchen lächelt noch immer versunken vor sich hin.
Um die Muskeln bei seiner spastischen Lähmung beweglich zu halten, hätten die Physiotherapeuten die Finger früher gewaltsam auseinandergebogen, erzählt Anett. Immer wieder hat sie für das Laken-Bild sanft seine Finger geöffnet, ein wenig Farbe draufgewischt und auf dem Stoff abgedrückt. Sie versuchte ihm zu zeigen, daß Bewegung nicht nur Schmerz bedeutet.
„Unsere Klasse haben viele schon aufgegeben“, sagt Carsten Ehlert. Er sieht aus wie ein frecher, großer Junge. Mit einem nachdenklichen Blick aus seiner bunten Brille betrachtet er seine Schüler, die um den großen Resopaltisch sitzen, auf dem noch die Teetassen vom Frühstück stehen: Björn und den spastisch gelähmten Thomas mit den schönen Augen, Saskia und Andre, die beide autistisch sind. „Wenn du hier was Bestimmtes erreichen willst, dann scheiterst du. Ich will mit ihnen leben. Für mich sind sie normal, einfach eigenständige Menschen, die anders sind“, sagt Carsten. Saskia beobachtet uns aus den Augenwinkeln, röchelt rhythmisch und bewegt dazu gleichmäßig den Oberkörper. Plötzlich wird ihr Röcheln schneller. Da legt Anett ihre Hand auf Saskias schmalen Kopf: „Bleib mal bei uns. Warum willst du gehen? Meine Große.“ Und langsam beruhigt sich Saskias Atem wieder. Wenn ihr alles zuviel wird, steigert sich das zierliche Mädchen mit den müden Schultern in epileptische Anfälle hinein, steigt einfach aus aus dieser viel zu grellen Welt, die sie bedroht. Vor ihrer Schulzeit wäre es unmöglich gewesen, daß Saskia stundenlang einen fremden Menschen so nah bei sich im Raum ertragen hätte.
Auch ihre Zukunft ist ungewiß. Zwar werden Saskia und Thomas erst 24, und Andre wird sogar erst 22 Jahre, aber der Schulrat hat auch ihnen eine Schulzeitverlängerung nicht genehmigt. Monika Scheil, die Direktorin der Schule, eine schmale Frau mit blitzenden Augen und kraftvoller Stimme, ist damit durchaus einverstanden: „Die Schule ist kein Abstellgleis, und niemand soll sich mehr um die Beantwortung der Frage drücken können, was mit diesen jungen Menschen nach der Schule geschehen soll. Es kann nicht sein“, sagt sie immer wieder, „daß das alles umsonst war.“
Warum fördere man sie erst, wenn man sie danach doch wieder absacken lasse, in irgendein Pflege- oder Altenheim stecke. Und ihre eben noch wild gestikulierende Hand fällt auf einen Stapel Papier auf dem Schreibtisch. „Förderbereich Schwerst-Mehrfachbehinderte“, steht obendrauf. Zur Not will das Oberlinhaus aus eigenen Mitteln für sie eine „Werkstatt mit besonderem Anspruch“ schaffen. Im Mai wird eine Bäckerei auf dem Gelände frei. Dann soll es mit dem Umbau losgehen. Sie hofft, daß er bis zum September fertig ist und das Land Brandenburg sich finanziell beteiligt. Jetzt komme Björns Fall erst mal vor den Sozialausschuß, hat man ihr zugesagt. Während es für die anderen drei im äußersten Fall noch eine Schulzeitverlängerung geben kann, ist Björn auch dieser Weg versperrt. Die Lehrer jedenfalls üben mit ihren Schülern schon mal für eine Zukunft in der Werkstatt.
Björn nestelt an seiner Schürze herum, die Betreuer Carsten ihm in der Holzwerkstatt umgebunden hat. Björns Kopf sinkt nach unten, und aufmerksam beobachtet er den Träger in seiner Hand. Thomas schläft, während Anett, die Lehrerin, mit Andre hobelt. Auf der anderen Seite des Tisches sägt Carsten mit Saskia. Hinter ihr stehend, führt er ihre Hand. Langsam und stockend ratscht die Säge durch ein Holzbrettchen, hin und zurück, hin und zurück. Bis Saskia plötzlich aufhört und die Säge gedankenverloren in der Luft schwenkt. Dann bittet Carsten sie, die Säge zurückzugeben, und alles beginnt von vorn. „Björn kann nun schon eine dreiviertel Stunde die Werkstattgeräusche ertragen, ohne einen Schreikrampf zu kriegen“, erzählt Carsten stolz. Wenn Björn schreit, dann mit einem langgezogenen Ton auf „I“. Ist er aber glücklich, so enden alle Laute auf „U“. Draußen, auf dem gepflasterten Hof, unterwegs zum Schulbus, hört man laut sein Muuuh, und Carsten sagt: „Heut haben wir gut was geschafft.“ Björn streicht vorsichtig über das Brettchen in seinem Schoß.
Der Bus bringt ihn in sein Heim, eine alte Villa in der Karl-Marx- Straße im Stadtteil Babelsberg. Hinter dem Haus glitzert der Griebnitzsee. Dort, am anderen Ufer, war früher die Grenze. Ein grünlicher Plasteboden bedeckt das Parkett in den weitläufigen Räumen. An den Wänden stehen noch die kippeligen, graubraunen DDR-Büromöbel. Das neue Westspielzeug, eine grellrote Rutsche oder das monströse Jahrmarktskuscheltier, sieht aus, als habe es jemand von einem fremden Stern abgeworfen. Björn erholt sich auf einer großen Matte dösend von seinem Schultag. Die Flügeltüren zum Wohnraum stehen offen. „Ja wo ist denn unser Björnilein? Fein liegst du da, Björni!“ ruft Heimleiterin Ilona Hesse dem 25jährigen zu.
26 behinderte „Kinder“ leben hier, die elf Schlafstätten für die Rollstuhlfahrer sind im Erdgeschoß, Gitter- und Krankenhausbetten dicht an dicht an den Wänden aufgereiht. Über Björns Bett hängt das Poster einer Margerite, auf der fliederfarbenen Bettwäsche fahren Bärchen Karussell. Herr Siegfried, einer der Erzieher, schiebt oft die Rollstühle auf die Terrasse am See. Dann legt er die Nana-Mouskouri-Kassette ein und dreht die Boxen auf, und alle tanzen bis zur Erschöpfung, selbst wenn es draußen nieselt. Auch Björn wiegt dann den Oberkörper, reckt die Arme in die Luft und lacht, denn Musik liebt er über alles. Dieses Haus war zehn Jahre lang sein Leben. Er könnte wohl noch bleiben, wenn man das Souterrain ausbaute. Das hat die Heimleitung angeboten, doch ein Umbau wäre teuer in dem alten, denkmalgeschützten Haus, und der Magistrat hat abgelehnt, sich an den Kosten zu beteiligen.
Außerdem soll das Heim irgendwann umziehen. Dann wird ein moderner, behindertengerechter Neubau entstehen. In zwei Jahren wird auch das Oberlinhaus neue Internatsplätze schaffen, wenn dort auf dem Gelände Räume frei werden. Doch was geschieht bis dahin? Man müsse eben prüfen, sagt die Stadt, ob Björn Kulske nicht zu seinen Eltern zurückkönne.
Doris Kulske ist eine kleine, mädchenhafte Frau mit einem warmen Lächeln, das ein bißchen entschuldigend wirkt. Jeden Freitag holt sie Björn nach ihrer Arbeit nach Hause in die kleine Dreiraumwohnung im vierten Stock, die sie mit ihrem Mann bewohnt. Den Rollstuhl nimmt sie nicht mit, er würde nicht um die Ecken des engen Treppenhauses passen. Vor der Tür des Plattenbaus wartet schon die Oma. Björn kann mit viel Hilfe ein wenig laufen. So legt sich Doris Kulske seine Arme von hinten um die Schultern und zieht ihn mühevoll mit sich, während die Oma von hinten versucht, ihn die Treppen hochzuschieben. Es kommt vor, daß Björn unterwegs einen epileptischen Anfall bekommt oder sein schmerzliches „Iiiih“ sekundenlang in dem düsteren, grauen Hausflur vibriert. Manchmal hätten sich Nachbarn beschwert, erzählt Doris Kulske, aber nur bis sie erschrocken den Behinderten entdeckt hätten und, plötzlich peinlich berührt, hinter ihren Türen verschwunden seien. „Oft möchte ich Björn in meinem Mantel verstecken, ihn retten vor diesen schrecklichen Blicken“, sagt sie.
Björn sitzt auf seinem Lieblingsplatz in der winzigen Küche, in der Ecke vor dem weißen Plastiktisch. Sein wonniges „Hhuuu“ ertönt in der Wohnung, und Charly, der sprechende Beo, ruft: „Ach du Schreck!“
„Wir können ihn nicht nehmen“, sagt Doris Kulske traurig. Auf dem Weg in die Küche hatte sie das Badezimmer gezeigt, sechs Quadratmeter, mit einer kleinen Badewanne, die viel zu hoch ist. Wenn sie Björn morgens wäscht, drückt er sie häufig mit seinen unruhigen Bewegungen gegen die Waschmaschine. „In der Schule ist es so schön, so ideal für ihn. Es muß doch jetzt irgendwie mit ihm weitergehen ...“
Björn schubst mit den Fingerspitzen immer wieder ein grünes Polizeiauto auf dem Tisch an, bis es umkippt. Zärtlich streicht er dann über eines der Räder, bis es sich leise sirrend dreht.
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